überführt Marguerite de Navarre die Einstimmigkeit des Exempels21 in den Raum der
Parlamente, in die Mehrstimmigkeit des Kasus:
Diese Geschichte wurde von der ganzen Gesellschaft aufmerksam angehört, aber sie rief einander wi¬
dersprechende Meinungen hervor. Denn die einen behaupteten, der Edelmann habe nur seine Pflicht
getan, indem er sein Leben und die Ehre seiner Schwester rettete und zugleich seine Vaterstadt von
einem solchen Tyrannen befreite. Die andern hielten dem entgegen, nein, es sei ein schmählicher Un¬
dank, seinen Wohltäter umzubringen, der einem soviel Gutes erwiesen und so große Ehre gebracht
habe. Die Damen erklärten, er habe als guter Bruder und vorbildlicher Bürger gehandelt, die Männer
hingegen meinten, er sei ein Verräter und böswilliger Diener gewesen. Es war vergnüglich, die beider¬
seitigen Ansichten, die dazu geäußert wurden, anzuhören.23 24
Während in allen anderen Novellen" die Diskussion unmittelbar einsetzt, kommt an
dieser Stelle eine Erzählerinstanz zu Wort, die die Diskussion zusammenfasst, bevor die
Stimmen der so genannten ,dévisants' sich wieder unmittelbar Gehör verschaffen. Dabei
wird die bewusste Inszenierung divergierender Meinungen besonders deutlich. Die Auto¬
rin konstruiert eine weibliche und eine männliche Perspektive auf den Kasus. Die Damen,
die im Blick auf das Gemeinwohl, das auch die Ehre der Frauen gewährleisten soll, argu¬
mentieren, betrachten die Tat als gerechtfertigt. In ihren Augen ist der junge Mann ,bon
frere et vertueux citoyen', der die ,patrie' von einem Tyrannen befreite. Die Herren beur¬
teilen den Fall aus der Perspektive des Machthabers. Was ist die Ehre der Schwester im
Vergleich zu dem Glück, seinem Herren dienen zu können. Rechtfertigt das harmlose
Vergnügen einen Mord? Für sie ist der junge Mann ein ,traistre et meschant serviteur'. In¬
dem die Damen, darunter auch Parlamente, einem ,citoyen' das Recht einräumen, im Na¬
men der ,patrie' gegen den Machthaber aufzubegehren, vertreten sie in gewisser Weise die
Argumentation des Parlaments, das sich auch im Namen der Royauté gegen den König
stellt. Dagegen vertreten die Herren die Position des Königs selbst, der seine absoluten
Machtansprüche geltend machen will. Als Frau und ergebener Schwester des Königs steht
der Autorin selbst eine doppelte Perspektive zur Verfügung, die in den divergierenden
23 Bereits bei Boccaccio kommt es zu einer Problematisierung des Exemplums. Vgl. in diesem Zusammen¬
bang vor allem Hans-Jörg Neuschäfer, der in seiner Arbeit Boccaccio und der Beginn der Novelle (München
1969) Boccaccios Weg vom Exemplum über das problematisierte Exemplum zur Novelle verfolgt. Neu¬
erdings hat Joachim Küpper in einer Auseinandersetzung mit der Deutung Neuschäfers das „Verhältnis
von mittelalterlichem und rinascimentalem Diskurs“ bei Boccaccio genauer herausgearbeitet. In seinem
Aufsatz „Afftchierte ,E,xemplarität‘, tatsächliche A-Systematik“ verfolgt er eine „Pluralisierung der Per¬
spektiven“ bei Boccaccio, die für ihn nicht Ausdruck einer Rhetorik, sondern einer Struktur der „A-
Systemattk“ ist (Küpper, Joachim: „Afftchierte ,Exemplarität‘, tatsächliche A-Systematik“, in: Klaus W.
Hempfer [Hg.]: Renaissance. Diskursstrukturen und Epistomologische Voraussetzungen [Text und Kontext 10],
Stuttgart 1993, S.47-93, hier S. 90).
24 S. 159 der deutschen Ausgabe. „Geste histoire fut bien écoutée de toute la compaignye, mais elle luy en¬
gendra diverses oppinions; car les ungs soustenoient que le gentil homme avoit faict son debvoir de saul-
ver sa vie et l’honneur de sa seur, ensemble d’avoir délivré sa patrie d'un tel tirant; les autres disoient que
non, mais que c’estoit trop grande ingratitude de mectre à mort celluy qui luy avoit faict tant de bien et
d’honneur. Les dames disoient qu’il estoit bon frere et vertueux citoyen; les hommes, au contraire, qu’il
estoit traistre et meschant serviteur; et faisoit fort bon oyr les raisons alléguées des deux costez“ (S. 95).
25 Mit Ausnahme der Novelle 44, wo sich auch kurz eine Erzählerinstanz zu Wort meldet, die allerdings die
Diskussion nicht im Vorfeld zusammenfasst: „La Nouvelle ne fut pas achevée sans faire rire toute la
eompaignie et principalement ceulx qui congnoissent le seigneur et la dame de Sedan“ (S. 302f.).
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