Königin? Bei Boccaccio, ihrem italienischen Vorbild, haben politische Machtstrukturen
keine zentrale Bedeutung. Im Erzählraum der Rahmenhandlung des Decameron inszeniert
er aber eine fiktive Hierarchie der Narration, indem jeden Tag ein König oder eine Köni¬
gin gekrönt wird, die einen Tag über die kleine Gruppe herrschen.'1 Die mit einem Lor¬
beerkranz gekrönte Königin beschränkt ihren auch optisch inszenierten Herrschaftsan¬
spruch auf den ästhetischen Raum der Fiktion. Hier bestimmt sie über Sprechen und
Schweigen: „Pampinea, fatta reina, comandö che ogn’uom tacesse“. Im Gegensatz zu
Boccaccio, von dem sie sich zweifellos in diesem Punkt bewusst absetzt, wird bei Mar¬
guerite de Navarre keine Königin gekrönt/' Als Autorin tritt die Königin „aus der Abhän¬
gigkeit der Kräfte“, wie es bei Schiller heißt. In einem komplexen Prozess der Delegie¬
rung von Machtansprüchen verwandelt sich die Souveraine in ,Parlamente4 8, ihre porte-
parole im Raum ihrer großen Novellensammlung, im Raum der Fiktion.
In der Rahmenhandlung des Heptaméron wird die Protagonistin Parlamente gemeinsam
mit vier anderen Frauen und fünf Männern von einem Unwetter in den Pyrenäen über¬
rascht und findet Zuflucht in einem Kloster. Da alle Verbindungswege unpassierbar ge¬
worden sind, soll eine Brücke gebaut werden, ihre Fertigstellung beansprucht aber einige
Zeit, die man sich mit dem Erzählen von Novellen vertreibt. Während bei Boccaccio die
Angst vor der Pest eine Gruppe junger Leute dazu bringt, Florenz zu verlassen und sich
aufs Land zurückzuziehen, inszeniert Marguerite de Navarre zwei in einer Ausnahmesitua¬
tion voneinander abgetrennte Räume. „Le pont reliera métaphoriquement le monde de la
fiction, le lieu du monastère, où les histoires sont racontées, avec le monde de la réalité“
interpretiert Marcel TeteU In unserer Perspektive ist aber weniger die verbindende Funk¬
tion der Brücke von Interesse, als die Tatsache, dass diese Brücke zwischen Realität und
Fiktion, zwischen dem politischen Raum realer Machtansprüche und dem fiktiven Raum
des Novellenerzählens eben nicht existiert. In der Ausnahmesituation ihrer Autorschaft
hat Marguerite de Navarre die Verbindung zwischen den beiden Räumen unterbrochen.
Ebenso distanziert sie sich auch von ihrer eigenen Rolle als Königin, indem sie diese Iden¬
tität von sich abspaltet. Im fiktiven Raum des Novellenerzählens tritt sie als Schwester des
Königs, als „madame Marguerite“, zwar in Erscheinung, sie nimmt sich selbst in dieser
Rolle aber aus der distanzierten Perspektive Parlamentes wahr. Hatte Marguerite de Na¬
varre am Hof das Projekt, nach dem Vorbild Boccaccios in ausgesuchtem Kreis Novellen
zu erzählen, so wird dieses Projekt nunmehr von einer anderen Instanz ihrer selbst im
4 Giovanni Boccaccio: Decameron. Vittore Branca (Hg.), Milano 1 985, S. 28f.
5 Ebd., S. 29.
6 Boccaccio stellt dem sich auflösenden Gemeinwesen und dem während der Pestepidemie herrschenden
Chaos einen Raum der Ordnung und eine ideale Herrschaftsform im Bereich der Fiktion gegenüber.
Marguerite de Navarre erfindet in umgekehrter Weise angesichts etablierter Herrschaftsstrukturen einen
Freiraum suspendierter Macht.
Friedrich Schiller: „Über die ästhetische Flrziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“, in: Schillers
Werke. Nationalausgabe, 42 Bde., begr. von Julius Petersen, fortgef, von Lieselotte Blumenthale / Benno
von Wiese, Bd. 20: Philosophische Schriften, Teil 1. Benno von Wiese (Hg.), Weimar 1962, 22. Brief, S. 379-
383, hier S. 380.
8 Marcel Tetel: L’Heptaméron de Marguerite de Navarre. ThèmesLangage et Structure, Paris 1991, S. 125.
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