Ideal. Die adelige Frau, wie Anne sie sieht, nutzt ihre Handlungsspielräume weitest mög¬
lich aus, steht auf einer Ebene mit den Männern und pocht auf ihre Souveränität. Mög¬
licherweise sieht Anne sogar eine gewisse weibliche Überlegenheit — ohne sie explizit zu
benennen —, denn die Frau verbindet mit der vita activa eine intensive Hinwendung zu
Gott.
Einzelne Aspekte in den Enseignements reflektieren besonders offensichtlich Annes
individuelle Erfahrung und Einstellung und sprägen das Selbstporträt. Oberstes Ziel ist
die eigene Ehre, „faictes tant que vostre renommée soit digne de perpétuelle mémoire“
(S. 11/42), ermahnt sie ihre Tochter von Anfang an. Das ,bonne renommée' und der ,bon
bruit' sind Zielpunkt jeder Verhaltensregel und entsprechen der Natur des Adels: „[...] la
nature des nobles doit estre d’acroistre leur renommée de bien en mieulx tant en vertus
que en sçavoir, affin qu’il en soit mémoire.“ (S. 112F/85)
Anne ist als Vertreterin des Hochadels ausgesprochen standesbewusst — sie unterzeich¬
net ihr Eeben lang mit ,Anne de France' und nicht etwa mit ,Anne de Beaujeu'."" Deshalb
ist es nur folgerichtig, dass sie ihrer Tochter ausführlich nahe legt, darauf zu achten, dass
alles der rechten Ordnung folgt — „car en toute choses faust tenir ordre" (S. 48/58). Sie
entwickelt ein kompliziertes Beziehungsgeflecht von Herrschaft und Verwandtschaft, dem
die adelige Frau in ihrem Verhalten Rechnung tragen muss."1 Anne unterstreicht diese na¬
türliche' Ordnung — sie spricht von ,droit et raison' — indem sie Verstöße dagegen mit
dem Aufstand Luzifers vergleicht"2 und mit Negativbeispielen aus ihrer unmittelbaren
Umgebung illustriert: „Et ay veu, depuis ung an en ça, en ce cas, nobles femmes, devant
leurs mères et grans mères, faire de telles coquardises [...] Et cecy advint en une niepce,
mariée à ung simple chevalier [...]“ (S. 51/59).
Sehr kurz, aber auch sehr pointiert, fallen Annes Ratschläge für den Fall aus, dass
Susanne — als Witwe oder auch als Regentin — ohne männlichen Beistand ihr Leben mei¬
stern muss. Anne argumenüert zunächst im Einklang mit der Tradition. Susanne solle sich
in diesem Fall in ihr Schicksal fügen, maßvoll in ihrer Trauer sein und Gott in den Mittel¬
punkt stellen: „dévotion doit estre la principalle occupation des femmes vefves“
(S. 116/87). Sobald Anne aber auf die alltäglichen Aufgaben und die Verwaltung der Gü¬
ter zu sprechen kommt, ändert sich der Ton, und die Ratschläge lesen sich wie das Pro¬
gramm für Annes eigene Witwenschaft (ihr Mann ist 1503 gestorben). Hier fordert sie die
absolute Souveränität und Verantwortung der Witwe ein, die niemandem Macht abtreten
solle: „Et du gouvernement de leurs terres et besongnes, ne s’en doivent actendre que à
elles, touchant la souveraineté, ne n’en doivent donner puissance à nul qui soit" (S.
116/87). Anne formuliert hier sehr deutlich den Anspruch, ihr Herzogtum allein zu regie¬
ren und weist damit die tatsächlich bestehenden Ansprüche der französischen Krone zu¬
rück. Unmittelbar nach diesem einen Satz wendet sie sich dem Verhalten gegenüber den
50 Brantôme kommentiert dies eigens {Recueildes Dames |wie Anm. 15], S. 170).
51 Renseignements, S. 48-55/58-61.
52 „Et saichez, quelque haultaine aliance où vous puissez jamais parvenir, que [...] ne devez despriser vos
ancestres, dont vous estes descendue; car ce seroit contre droict et raison. Et, selon le docteur Liénard,
ceulx qui ainsi le font, ressemblent à Lucifer, qui, par son orgueil, se voulut eslever contre Dieu son créa¬
teur [...]“ (S. 49/58).
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