Grund wird hier für die Verwendung des Begriffs Salon-A.lbum plädiert anstelle der bislang
verwendeten Bezeichnungen album amicorum oder album de poésies. Wir wissen in diesem
Falle allerdings weder, wer dieses Album wohl um 1573 zusammengestellt hat, noch
weshalb die zu Beginn in klarer Kalligraphie abgeschriebenen Gedichte am Ende von we¬
niger geübter Hand, hastig und mit verblassender Tinte niedergeschrieben wurden. Aus
heutiger Sicht erscheint dieses Album wie der poetische Spiegel eines utopischen Raums
des Friedens, der Freundschaft — und eines einzigartigen Mäzenatentums.
Zum Teil handelt es sich um Gelegenheitsgedichte, Klagen über die Abwesenheit oder
die Erkrankung der Maréchale, über Petitessen wie den Verlust eines Spiegels, zum Teil
um chronikartige Erinnerungspoeme über gesellige Höhepunkte, über gemeinsame Aus¬
flüge und Maskeraden. Andere Texte wiederum, wie das vermutlich von Marguerite de
Valois verfasste Sonett auf Mademoiselle de Thorigny, ’ sind Freundschaftsgedichte unter Frau¬
en. Die Mehrzahl jedoch sind Elogen auf Claude-Catherine de Clermont, ihre Schönheit,
Intellektualität und Großzügigkeit. Mit Ausnahme eines einzigen sind alle diese Gedichte
anonym, und nur einige wenige sind mit Sicherheit Dichtern wie Antoine du Baff, Philip¬
pe Desportes, Amadis Jamyn oder Etienne Jodelle zuzuschreiben. Doch wer sind die an¬
deren Verfasser? Von wem stammt zum Beispiel das italienische Gedicht, ein Feuerwerk
des Witzes und der Phantasie, die Klage eines abgewiesenen Eiebhabers, der sich als
„Türke oder Skythe oder Mohr“, als „Wolf, Bär, Tiger oder Panther“ maskiert und der ei¬
ne aberwitzig-skurrile Litanei von Mitteln des Liebeszaubers abspult?si‘ Wem gehören die
vielen unterschiedlichen Hände, in denen die Gedichte dieses Albums geschrieben wur¬
den? — Brechen wir an dieser Stelle die notwendigerweise extrem knappe Vorstellung des
Salon-Albums der Herzogin von Retz ab, das sich des Weiteren durch diverse Zeitbezüge
(Religionskriege, Friedenssehnsucht) auszeichnet.
8. Resümierende Thesen - und offene Fragen
Roberto Simanowski schlägt, ausgehend von europäischen Salons des 19./20. Jahrhun¬
derts, die folgende Definition vor:
Gemischtgeschlechtlichkeit, Zentrierung auf eine Salonnière, Periodizität des Zusammentretens in ei¬
nem zur Halböffentlichkeit erweiterten Privathaus, Gespräch als wichtigstes Handlungsmoment,
Durchlässigkeit bei den Teilnehmerstrukturen, tendenzieller Verzicht auf Handlungsziele jenseits der
Geselligkeit. Ein wichtiger Aspekt des Salons [...] ist seine Internationalität.81
Dieser Kriterienkatalog lässt sich, leicht modifiziert und erweitert um andere Merkmale,
auf die früheren Beispiele dieser Form von Soziabilität übertragen. Wir hatten die Salons
im Frankreich des 16. Jahrhunderts zunächst hergeleitet aus der Sozialform des ,alteuro¬
päischen Hauses4 und die ,cabinets4 des 16. Jahrhunderts beschrieben als Orte des Kultur¬
transfers und damit der Zirkulation von literarischen Modellen, von Wissen und Ivultur-
9 Anonymus (-a?): „Sonnet à Madamoiselle de Torigny“, in: Catherine de Clermont: Album de poésies (wie
Anm. 38), S. 69f.
80 Anonymus, Nr. XCVI, in: Catherine de Clermont: Album de poésies (wie Anm. 38), S. 135-141, hier S. 135.
Roberto Simanowski: „Einleitung. Der Salon als dreifache Vermittlungsinstanz“, in: Roberto Simanowski
/ Horst Turk / Thomas Schmidt (Hg.): Europa — ein Salon? Beitrage sçur Internationalität des literarischen Salons,
Göttingen 1999, S. 8-39, hier S. lOf.
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