bunden“ nicht nur inwendich — so heißt es ja in der Lütticher Nachschrift - zu betrachten
und zu meditieren, sondern auch echte Bilder — Grafiken und Miniaturen - einzubringen.
In ihrem Kloster gab es offenbar zu dieser Zeit keine Buchmalerin. Die Priorin musste
sich also anders behelfen und sammelte thematisch passende Federzeichnungen und
Holzschnitte in passendem Format.
Schmidt hat nachgewiesen, dass Anna Jäkin ihre Szenenfolge aus insgesamt acht ver¬
schiedenen gemalten und gedruckten Leben-Jesu-Zyklen zusammenstellte. Erst dann, als
sie ihr Bildmaterial beisammen hatte, begann sie mit der Schreibarbeit, nicht ohne die
über den Herstellungsprozess so viel verratenden kleinen Fehler, wie etwa auf fol. 44vb,
wo sie direkt nach der Überschrift weiter schreiben will — Do Jos —, dann aber bemerkt,
dass sie für dieses Kapitel über eine Abbildung verfügt, den Platz dafür freilässt und zehn
Zeilen darunter erneut mit dem Text ansetzt: Do Joseph und Maria mit unserm herren Jhesum
von Jerusalem hain wollten gan...
In Inzigkofen gab es übrigens noch ein zweites Exemplar des Textes, Hs. Donau-
eschingen 436, jetzt in Karlsruhe, das etwa zehn Jahre, nachdem Anna jäkin mit so viel
Mühe ihr Exemplar des „Leben Jesu“ geschrieben und illuminiert hatte, fertig bebildert
mit kolorierten Federzeichnungen in die Bibliothek kam.1 Durch dort eingefügte Text¬
korrekturen wissen wir, dass es von ihr sehr genau mit ihrer eigenen Abschrift verglichen
wurde. Die zweite Handschrift weist ebenfalls 40 Miniaturen zu den 50 Textkapiteln auf,
wobei die bebilderten Kapitel genau den anderen Ausgaben entsprechen.
Hier muss nun wenigstens kurz von Handschrift Lichtenthal 70 gesprochen werden,
die ebenfalls der — um es einmal so zu nennen — ,40er Bildredaktion4 folgt und die bebil¬
derten Kapitel mit in Kästen gesetzten kolorierten Federzeichnungen ausstattet. Diese
von Schwester Regula selbst für den Gebrauch im Kloster kompilierte und geschriebene
Handschrift ist über Wasserzeichen in die Jahre 1450 bis 1452 datierbar und geht auf ei¬
nen noch unbekannten ebenfalls deutschen Überlieferungszeugen zurück; aber nicht Re¬
gula hat ihn aus dem Lateinischen des Michael von Massa übersetzt, sondern eine noch
unbekannte Person, deren Übersetzung sich Schwester Regula bedient.“
21 Gerhard Stamm in: Felix Fleinzer (Hg.): Unberechenbare Zinsen'. Bewahrtes Kulturerbe. Katalog pur Ausstellung
der vom Land Baden-Württemberg erworbenen Handschriften der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek, Württem-
bergische Landesbibliothek Stuttgart 1993, Nr. 29, S. 112-113.
22 Zur Handschrift vgl. Heinzer, Felix / Stamm, Gerhard (Hg.): Die Handschriften von Lichtenthal (Die Hand¬
schriften der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe 11), Wiesbaden 1987, S. 40-42, 175-179. — Sie¬
benmorgen, Harald (Hg.): Faszination eines Klosters. 750 Jahre Zisterftenserinnen-Abtei Lichtenthal. Sigmaringen
1995, Kat.-Nr. 87. - Die ausführlichste Untersuchung zur Handschrift bietet die leider unveröffentlichte
Magisterarbeit von Barbara Modler: „Lichtenthal 70“. Eine spätmittelalterliche Bilderhandschrift der Badischen
Landesbibliothek Karlsruhe [Lichtenthal, um 1450 , Magisterarbeit Freiburg 1980. — Zum Werk der Schwester
Regula siehe Stamm, Gerhard: „Klosterreform und Buchproduktion. Das Werk der Schreib- und Lese¬
meisterin Regula“, in: Siebenmorgen: Faszination (wie Anm. 22), S. 63-70 [mit der nach wie vor vertrete¬
nen Meinung, dass Regula die Übersetzerin des Textes seif - Schmidt: „Kleben statt malen“ (wie
Anm. 20), S. 264 mit Anm. 47.
103