delle, deren schlimme Saat in den folgenden drei Jahrzehnten aufgehen sollte.
Die krasse Großstadtfeindschaft der führenden NS-Figuren mündete ja dann in
abstruse Entballungspläne und Reagrarisierungsstrategien für die Industrie¬
regionen, ehe die Aufrüstungspolitik diesen tumben ideologischen Ballast über
Bord warf.
Mit dem Hinweis auf die Beeinflussung der damaligen jungen Generation
möchte ich zu meinem zweiten angekündigten Beispielbereich übergehen, denn
die Hoffnung auf eine Lösung der Probleme und langfristige Bewältigung der
Herausforderungen verband sich mit der Jugend: Ihr wurde die Rolle zugewie¬
sen, den "neuen Menschen" der Zukunft zu schaffen; sie sollte den Aufbruch zu
neuen geistigen Ufern beginnen, der dann auch zu einer totalen Verjüngung
von Staat und Gesellschaft im Kreise der alten Mächte des Kontinents führen
und Deutschland zur Leitnation der Welt machen würde. Schließlich lebte man
ja um 1900 im Vergleich zu den anderen Staaten in einer jungen Nation mit
einem jungen Kaiser und einer jungen Hauptstadt! Jugend und Jugendlichkeit
wurden also um die Jahrhundertwende zu einer multifunktional einsetzbaren
Chiffre für Aufbruch und zukunftsgerichtete Tat.
Die Orientierung an der Geschichte, wie sie das bürgerliche Zeitalter zwecks
Selbstvergewisserung und Identitätsstiftung intensiv betrieben hatte, war nun
ausdrücklich "lebenshemmend"; sie galt wie vorher schon Nietzsche und ande¬
ren Zeitkritikem als die dünne Suppe, aus der sich ein vergreistes Bildungs¬
philistertum ernährte. Wenn man den jungen Menschen durch die Jahrtausende
peitschte, hieß es, dann komme am Ende allenfalls frühreifer Stumpfsinn heraus.
"Die stärksten Instinkte der Jugend: Feuer, Trotz, Selbstvergessen und Liebe"
dürften - so Nietzsche - nicht unterdrückt, sondern müssten befreit werden:
"Denn dann kommt das Reich der Jugend." Das, was sich bisher als Fortschritt
präsentiert hatte, der technisch-ökonomische Fortschritt und die alles nivellie¬
rende Massenzivilisation, galt nun als hässliches Gegenbild zu einer neuen
Kultur und einem ganz anderen Fortschrittsparadigma. Noch einmal Nietzsche:
Fortschritt ist "die Verstärkung des Typus, die Fähigkeit zum großen Wollen:
alles andere ist Missverständnis, Gefahr... Die Menschheit als Masse dem Gedei¬
hen einer einzelnen stärkeren Spezies Mensch geopfert ... das wäre ein Fort¬
schritt!"
Diese Zitate weisen in eine Denkrichtung, die neben einer Reihe weiterer Erlö¬
sungsstrategien um 1900 ganz erheblich an Boden gewinnen und - man kann
dies ohne Übertreibung sagen - ganz entscheidend das geistige Klima der
gesamten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland mitbestimmen sollte.
In diesem Zusammenhang ist noch eine weitere wichtige Zutat zu nennen, die
ebenfalls in den Topfeines neuen Fortschrittsbegriffs gerührt wurde. Sie stammte
ursprünglich von Charles Darwin. Seine Erkenntnisse über die Evolution
passten insofern den einschlägigen geistigen Strategen aus den an der Diskus¬
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