aller Bewegungen durch. Die älteren Begriffe 'Fortgang', 'Fortrücken', 'Progress'
bezeichneten zwar auch Bewegungen, aber nicht im Sinne eines linearen "Fort-
schreitens zum Weltbesten" (Kant), sondern im Sinne des Planetenumlaufs um
die Sonne.
Gleichzeitig und typischerweise entstand - wie schon gesagt - damals auch der
Begriff 'Geschichte' (im Singular). 'Geschichte' wurde seit dem Ende des 18.
Jahrhunderts nicht mehr bloß als Bündel von Geschichten verstanden, sondern
als eine alle historischen Einzelbewegungen überwölbende Gesamtgeschichte,
die mehr war als nur die Summe ihrer Teile. Eine solche Totalgeschichte besaß
Richtung und Ziel, besaß eine "große Bestimmung", die - so der Göttinger
Historiker Schlözer im Jahre 1784 - auf die Aufklärung und das Glück der
bürgerlichen Gesellschaft hinauslaufe. Hegel sprach schließlich sogar von der
"Arbeit der Weltgeschichte", so, als ob die Geschichte ein "eigentätiges Agens"
sei. Die neuen gelehrten Stände, d.h. das entstehende Bildungsbürgertum,
begannen somit Geschichte als Messlatte zu verstehen, an der man den 'Progres-
sus' ablesen konnte: also den Fortschritt auf dem Wege der Verbesserung und
Veredelung der einzelnen Menschen sowie der Gesellschaft als ganzer. Alles,
was in diese Richtung wies, war 'progressiv' - ein neuer Legitimationsbegriff war
damit geboren, der später immer wieder geradezu als Totschlagargument benutzt
werden sollte! Die neuen technischen Errungenschaften - hier noch ganz im
Dienste der Zielvorstellungen eines solchen Denkens eingeordnet - schienen
den Menschen nun endlich aus seiner Abhängigkeit von der Natur und deren
Kreisläufen wie auch Katastrophen zu befreien und ihm den Entwurf in eine
glücklichere Zukunft mit einem klaren, diesseitigen Endziel zu ermöglichen.
Von Marx und Engels bis zu den Anhängern von Adam Smith, das gesamte
Spektrum der liberalen Beamtenschaft, der bürgerlichen Sozialreformer, der
Demokraten und der Wissenschaftler der meisten alten und neuen Disziplinen -
sie alle fanden Sinn und Legitimation in der Lehre vom Fortschritt, der geradezu
ein quasi religiöser Hoffnungsbegriff wurde: Friedrich Engels schrieb noch
1892: "Faktisch gibt es ja in der Geschichte nichts, was nicht in der einen oder
anderen Weise dem menschlichen Fortschritt dient, aber oft auf einem ungeheu¬
eren Umweg."
Und auch Adolf Hitler brachte das Verhältnis von "Fortschritt" und "Geschich¬
te" auf einen typischen Nenner, als er 1928 schrieb: "Die Ewigkeitswerte eines
Volkes werden unter dem Schmiedehammer der Weltgeschichte zu jenem Stahl
und Eisen, mit dem man Geschichte macht." Solche Selbstgewissheit hat al¬
lerdings schon um 1900 ein wachsender Teil der bürgerlichen Kreise, die ein
halbes Jahrhundert vorher noch voller Optimismus den Fortschrittsbegriff auf
ihre Fahnen geschrieben hatten, nicht mehr geteilt.
Zunächst waren nach der 1848er Revolution viele Bürger angesichts der
bedrohlichen Begleiterscheinungen der 'Entsittlichung' der Unterschichten, der
Aggressivität eines sprunghaft wachsenden Proletariats in den Gewerbezentren
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