Fortschrittseuphorie und Fortschrittskritik um 1900:
Die Ambivalenz der Moderne*
Jürgen Reulecke
Friedrich Nietzsche soll einmal den Nachgeborenen, also uns z.B., bissig-iro¬
nisch zugerufen haben: "Ihr seid nicht klüger; ihr kommt nur später!" Wenn man
diesen Satz umdreht, macht er ebenfalls Sinn und könnte geradezu als Leitmotiv
für die in den letzten Jahren sich munter entwickelnde neue Kulturgeschichte
genommen werden, indem sie den Menschen in der Vergangenheit bestätigt: "Ihr
wart nicht dümmer; ihr kamt nur früher!"
Wenn man sich mit dem Abstand von hundert Jahren mit der Fortschrittseupho¬
rie und gleichzeitigen Fortschrittskritik um 1900 beschäftigt, tut man gut daran,
genau diesen Satz zu beherzigen. Denn wie bei nur wenigen Themen spielt bei
unserem Thema die selbstverständlich immer offene, aber damals von vielerlei
Erwartungen einerseits, Ängsten andererseits besonders stark bestimmte Zukunft
der Menschen (vor dem Flintergrund ihrer Erfahrungen und Wahrnehmungen)
eine entscheidende Rolle - dies vor allem auch mit Blick auf das, was im
20. Jahrhundert dann darauf folgen sollte! Um es gleich an den Anfang unserer
nun beginnenden Tagung zum Thema "Forschungsaufgabe Industriekultur" zu
stellen: Der Begriff "Industriekultur" besitzt m.E. nur dann Sinn und liefert nur
dann eine forschungsleitende, umfassende Perspektive, wenn die Wechsel¬
wirkungen zwischen den faktischen Entwicklungen und Erscheinungsformen
der Industrie einerseits und andererseits deren Wahrnehmung, Deutung und
darauf bezogene subjektive Sinnstiftung durch die betroffenen Menschen in
ihrer jeweiligen Zeit ernst genommen und in den Mittelpunkt der Forschung
gestellt werden.
Doch nach diesem trockenen Einleitungsappell will ich zunächst ganz handfest
werden und als auflockernden Einstieg in mein Thema eine Geschichte nach¬
erzählen, die vor etwa hundert Jahren spielt. Sie ist erstmalig 1910 in der Zeit¬
schrift "Jugend" abgedruckt worden und trägt den Titel "Doktor Knölge's
Ende".
Ein gewisser Dr. Knölge, ein vom Rheuma geplagter und von der Großstadtzivi¬
lisation frustrierter pensionierter Gymnasiallehrer, entdeckt das Essen vegeta¬
rischer Speisen als hilfreiche Linderung seiner Leiden und gerät langsam in den
Dunstkreis vegetarischer Zeitgenossen. Er wird dabei zu einem eher harmlosen
Der Vortragstil des vorliegenden Beitrags ist weil gehend beibehalten worden, da es sich
um den Text des öffentlichen Einleitungsvortrags zu der Tagung "Forschungsaufgabe
Industriekultur" (Saarbrücken 23.9.2002) handelt. Hinweise auf die zitierte Literatur finden
sich am Schluss des Beitrags.
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