Natürlich sind solche Untersuchungen insgesamt unzureichend, weil man
zwischen ledigen und verheirateten Arbeitern ebenso unterscheiden müsste wie
nach der Kinderzahl und weil man die Wohnbedingungen innerhalb und
außerhalb der Siedlungen vergleichen müsste. Doch war jedenfalls in den
Augen der Unternehmer die Belegschaftsstabilität an das Wohnangebot gebun¬
den. Da nicht alle untergebracht werden konnten, wurde meist ein Kriterienkata-
log für die Aufnahme in Siedlungshäusern aufgestellt. Er beruhte auf einem an
der Dauer der Betriebszugehörigkeit orientierten Punktesystem, in das die
Familiengröße einbezogen wurde. Wie weit dieses System funktioniert hat und
effizient war, ist schwierig festzustellen. Allenfalls lässt sich sagen, dass das
Problem der Arbeäterstabilität die gesamten Akten der Unternehmen durchzieht.
Eines der grundlegenden Themen der Diskussion über das Arbeiterwohnen
hängt eng zusammen mit der moralischen Rolle des Arbeitgebers und seiner
sozialen Verpflichtung gegenüber dem Arbeiter. In dieser Perspektive wäre das
Wirken des Unternehmers für die Verbesserung der Wohnsituation gewisser¬
maßen ein unverzichtbares Gegenstück zu der Schwere der Arbeit. Die Arbeiter¬
siedlung würde zum Feld der sozialen Werke gehören. Das würde implizieren,
dass der Bau von Arbeitersiedlungen aus moralischen oder religiösen Überle¬
gungen heraus erfolgte. Das Problem liegt darin, dass die meisten Quellen,
welche in diese Richtung weisen, von außerhalb der Unternehmen kommen,
und zwar größtenteils aus den konservativen Milieus, die der Entwicklung der
Industrie verhältnismäßig feindlich gegenüberstanden.16 Diese Vorkämpfer des
sozialen Engagements und der Verbesserung des Schicksals der arbeitenden
Klassen waren zwar tatsächlich durch ein humanitäres Verantwortungsgefühl
motiviert, doch hatten sie vor allem Sorge wegen der Möglichkeit eines Ab¬
gleitens der Arbeiterklasse in extremistische und revolutionäre Ideen. Ihr Haupt¬
anliegen war, die Unternehmer von der Notwendigkeit eines sozialen Engage¬
ments für ihre Arbeiter zu überzeugen. Die Unternehmensarchive entkräften
jedenfalls für Lothringen weit gehend die Vorstellung von einer Unternehmer¬
schaft, die sich aus moralischen und bzw. oder religiösen Gründen zur Unter¬
bringung ihrer Arbeiter verpflichtet sah. Nur in einem Fall erschien die "paterna-
listische" Dimension in einem Unternehmensdokument völlig offensichtlich: im
Vorstandsbericht für die Aktionärshauptversammlung des Glasunternehmens
Vallérysthal 1873.17 Doch handelte es sich hier darum, den Aktionären die
Notwendigkeit der Ausgaben für die Wohnungen und Gärten, welche die
Direktion für die Arbeiter vorgesehen hatte, schmackhaft zu vermitteln. Jeden¬
falls ist es sehr schwierig, ein klares Bild von den religiösen Überzeugungen der
16 Eine Ausnahme bildet Émile Cheysson, Fabrikdirektor von Le Creusot. Sein Kampf für
ein soziales Engagement der Unternehmer ist jedoch in die Zeit nach seiner verantwortli¬
chen Stellung im Betrieb zu datieren. Vgl. Émile Cheysson, Le Patron, son rôle écono¬
mique et social. Paris 1906.
17 Rapport à l'Assemblée générale des «Actionnaires de la société anonyme des Verreries
réunies de Vallérysthal et Portieux», 7.10.1873 (ADMos 37 J 32).
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