Ein neues Bild der Arbeitersiedlungen in Lothringen
Laurent Commaille
Die Arbeitersiedlungen prägen auch heute noch einen großen Teil des Stadt¬
bildes in Lothringen. Über 200 an der Zahl, haben sie häufig das Wachstum
dörflicher Marktflecken zum Kleinstadtstatus bewirkt. Unter sozialen Gesichts¬
punkten hat man sie lange in enger Verbindung mit dem Unternehmerpaternalis¬
mus gesehen, mit einem recht negativen architektonischen Image, welches ihnen
immer noch anhängt und sie eher an die "schwarze Legende" des industriellen
Lothringens von Eisen und Kohle, aber auch an die Textilindustrie bindet.
Doch die Auswertung der heute zugänglichen Unternehmensarchive - soweit sie
erhalten sind - geben ein völlig neues Bild ihrer Entstehungsbedingungen.
Lange Zeit standen sich zwei im Ursprung gegensätzliche, doch in den Schluss¬
folgerungen gemeinsame Interpretationen gegenüber. Auf der einen Seite er¬
schien die Arbeitersiedlung als Ergebnis einer philanthropischen Untemehmer-
politik: Angesichts des Elends des Proletariats und der Gefahren sozialer Auf¬
stände begannen von der christlichen Soziallehre beeinflusste Unternehmer,
Unterkünfte zu bauen, in einer Verbindung von sozialer Verantwortung und
wohl verstandenem politischem Interesse. Dagegen sahen die Gegner des Sys¬
tems darin ein Mittel, die Arbeiter über die Wohnmöglichkeit unter Druck zu
setzen und dem Unternehmen zu unterwerfen. In den 1970er Jahren brachten die
Schüler von Michel Foucault eine weitere Dimension in die Diskussion mit den
Arbeitersiedlungen als Schmelztiegel eines neuen Menschentyps, Vorfahre des
homo totaiitarus, dessen Vorläufer, wie Foucault sie untersuchte, man im Europa
der Aufklärung verankerte. Die Realität sieht allerdings grundlegend anders aus,
wenn man die Verwaltungsratsakten heranzieht: Mit dem Konkurrenzkampf und
der Instabilität der Arbeiterschaft sind offensichtlich Sachzwänge die wichtigsten
Motive auf Unternehmerseite gewesen. Erst wesentlich später erhielt die Arbeiter¬
siedlung in der Zwischenkriegszeit die Dimension eines Wohltätigkeitswerkes.
Im lothringischen Kontext hätten aber auch nationale Gesichtspunkte eine Rolle
spielen können: Man sieht sie zwar in der Architektur der Siedlungen und in
den über die Baugenossenschaften an die staatliche Sozialpolitik gebundenen
Bauten, jedoch nicht in den zugrunde liegenden Motiven und Vorgehens¬
weisen.
Arbeitersiedlungen haben offenbar seit dem Mittelalter existiert, wenn man
darunter Ansammlungen von mehr oder weniger identischen Unterkünften für
mit industriellen Tätigkeiten befasste Arbeiterfamilien versteht. Ohne hier auf
viele Beispiele eingehen zu können - genannt sei beispielhaft die Siedlung der
Cristallerie Saint-Louis sind solche Siedlungen zumindest in der uns ge¬
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