Mobilisierung.6 9 Die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechtes zeigte bei den
Kommunalwahlen im Juli 1920 eine starke Linke im Saargebiet. Linke Parteien
und Gewerkschaften entwickelten sich vor allem in Gebieten mit geringerem
katholischen Bevölkerungsanteil. Mit dem Ende des Königreichs Stumm und
damit dem Wegbrechen patriarchalischer Unternehmenskultur etablierte sich die
Arbeiterbewegung nach dem Ersten Weltkrieg vor allem in Neunkirchen, das
auch als "Hefeteig der Arbeiterbewegung" bezeichnet wird. Zum gewerkschaftli¬
chen Aufstieg gehört auch der Aufbau einer eigenen Gewerkschaftspresse mit
dem "Bergarbeiter" und dem "Saar-Bergknappen". Der politischen Aufbruch¬
stimmung, in der der BAV das Gros der Räte im Saarrevier gestellt hatte, folgte
Ernüchterung. Eine politische Repräsentanz blieb den Gewerkschaften wie den
Parteien in der Völkerbundszeit verwehrt, besaß doch der Landesrat weder ein
Kontrollrecht gegenüber der Regierung noch eine Budgethoheit, ein Legislativ¬
recht oder Immunität.
Die im Vergleich zum übrigen Deutschland starken christlichen Gewerkschaften
erklären sich aus der saarländischen Bevölkerungsstruktur mit ihrem hohen
Katholikenanteil, dörflichen Lebensstrukturen vieler Arbeiter und dem politi¬
schen Aufstieg des Zentrums an der Saar. Im Saargebiet waren 52,7% der Bevöl¬
kerung Arbeiter, 72,5% waren katholischen Glaubens gegenüber 45,1% Arbei¬
tern und 32,4% Katholiken im Reichsdurchschnitt (Stand: 1927).K Diese
Größenverhältnisse begünstigten bei einer sehr hohen Bevölkerungsdichte das
Wachsen eines kohärent katholischen Milieus, in dem Klerus, Kirchengemeinde
und Vereinswesen die Arbeiterschaft auch gewerkschaftlich zu integrieren ver¬
standen. Diese Struktur ermöglichte es den christlichen Gewerkschaften, den
Aufstieg der Freien wieder zurückzudrängen, indem die Geistlichen vor Ort auf
die Familien einwirkten. Zu diesem Milieu gehörte, dass die Mehrzahl der Berg-
und Hüttenleute nicht im urbanen Zentrum von Saarbrücken lebte, sondern auf
dem Dorf. Der starken Stellung christlicher Gewerkschaften ging der politische
Aufstieg des Zentrums voraus. Im Gegensatz zum übrigen Deutschland entwi¬
ckelte es sich im Saargebiet zur stärksten politischen Kraft und konnte sich
dabei auf eine klassenübergreifende Wählerschaft stützen. Die Mitglieder der
christlichen Gewerkschaften waren vorher entweder unorganisiert gewesen oder
kamen aus den alten christlichen Werkvereinen, zu denen die christlichen
Gewerkschaften zur Jahrhundertwende bis kurz vor Kriegsausbruch in einem
Konkurrenzverhältnis gestanden hatten. Besonders stark waren die Werkvereine
in der Eisenindustrie, nicht zuletzt der erhebliche Lohnrückstand in dieser
Branche förderte den Abwanderungsprozess zu den christlichen Gewerk-
schaftenf Das Zentrum fing als katholische Partei mit sozialer Programmatik
6 Mallmann u. Steffens (Anm. 4), S.122ff, 138ff.
7 Ebd.
8 Ebd., S. 129.
9 Josef Beilot, Hundert Jahre politisches Leben an der Saar unter preußischer Herrschaft.
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