Ein kurzer Blick auf Bismarck ist hier nützlich. ’1' ln den 1860er Jahren hatte sich
der preußische Ministerpräsident bekanntlich stets politische Optionen, darunter
diejenige Lassalles und der Arbeiterbewegung, offen gehalten, und korporative
Lösungsideen der sozialen Frage, wie sie etwa durch Hermann Wagener an ihn
herangetragen wurden, blieben ihm nicht fremd. Das änderte sich in den Reichs¬
gründungsmonaten. Im Bemühen um die Konsolidierung des Reiches nach
innen schien eine der Optionen im Generellen, einstweilen an den Arbeiter¬
führern praktizierten Verbot zu liegen, und dafür stand dann in den 1870er
Jahren jener Berliner Staatsanwalt, der der Repressionsphase gegenüber der
Sozialdemokratie noch vor dem Sozialistengesetz seinen Namen gab: In der "Ära
Tessendorf" wurden Gewerkschafter und Sozialdemokraten, soweit das nur
anging, aus Berlin und Preußen vertrieben. Die "Mörder und Mordbrenner", wie
Bismarck die Pariser Kommunarden apostrophierte, blieben seither sein Feind¬
bild, aber sie verdeckten nicht die Einsicht in das Erfordernis so genannter
"positiver Maßnahmen", zu denen sich der Reichskanzler in der Reichsgrün¬
dungsphase ebenso bereit fand wie während der Zeit des Sozialistengesetzes. Er
musste gar seinen liberalen Handelsminister dringend davon überzeugen, dass
Gesetzesinitiativen angebracht seien - nur in Sachen Arbeiterschutz scheint er
seit den späten 1870er Jahren, darin wohl anders als Stumm,40 einen unzulässi¬
gen Eingriff des Staates in die Betriebe und zudem eine Beschränkung der
Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie gesehen zu haben. Nach dem
Zeugnis der Baronin Spitzemberg soll er schon bei Erlass des Sozialistenge¬
setzes mit dem Gedanken eines Staatsstreiches, also der Außerkraftsetzung der
verfassungsmäßigen staatsbürgerlichen Rechte, gespielt haben.* 41 Die altpreußi¬
sche Dialektik von positiven und repressiven Maßnahmen scheint dann ins¬
besondere in der viel zitierten Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881
auf, in der die "Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der
Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf
dem der positiven Förderung des Wohls der Arbeiter" erwartet wurde.42
Die Grundzüge jenes autoritären Patriarchalismus, den Krupp und Stumm in der
betrieblichen Sozialpolitik, letzterer auch in seinen legislativen Initiativen, sowie
Bismarck in der staatlichen Sozialpolitik nicht erst seit den 1880er Jahren
exekutierten, sind dem altpreußischen Habitus des Wechselbezugs von Pflicht
und Gehorsam auf der einen, Fürsorge und Wohlergehen auf der anderen Seite
entnommen. Sie wurzeln in der Ständegesellschaft der frühen Neuzeit und im
Zum Folgenden siehe Klaus Tenfelde, Bismarck und die Sozialdemokratie, in: Otto von
Bismarck und die Parteien, hrsg. von Lothar Gail. Paderborn u.a. 2001, S. 111-135.
40 Vgl. Reden (Anm. 15), Bd. 11 (für 1869-1891).
41 Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg. Aufzeichnungen aus der Hofgesellschaft des
Hohenzollernreiches, hrsg. von Rudolf Vierhaus. Göttingen 41976, S. 172.
42 Zit. nach Gerhard A. Ritter, Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung
und Grundzüge im Vergleich. München 1983, S. 28; vgl. Tenfelde (Anm. 39), S. 132.
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