Stichlingen über Gichtgas und Gewinnung von Jod aus demselben. Den An¬
gaben von Paul Wurth zufolge14 bat Ingenieur Paul Gredt anlässlich der ersten
Einstellungsgespräche darum, in dem neu zu errichtenden Werk Versuche in
größerem Maßstab zur Gewinnung von Jod anstellen zu dürfen, womit sich
Wurth bereitwillig einverstanden erklärt habe, unter der Bedingung, dass vorher
versucht würde, Gichtgas in einem gewöhnlichen Gasmotor zur Krafterzeugung
zu verwenden. Wurth vertrat bereits damals die Ansicht, dass, wenn auch Gicht¬
gas viel ärmer an Heizwert sei als Leuchtgas, dasselbe doch zur Verbrennung
dementsprechend weniger Luft brauche, so dass schließlich die Einheit des
Gemisches Gichtgas plus Luft nicht viel ärmer an Heizwert sei als die Einheit des
Gemisches Leuchtgas und Luft und daher in demselben Explosionszylinder mit
beiden Gasarten ungefähr dieselbe Arbeit geleistet werden könne. Diese An¬
nahme sollte sich hernach auch als richtig heraussteilen.
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Gründungsgeschichte des Differdinger
Unternehmens von Beginn an mit der Gichtgasfrage verknüpft ist. Ohne Zweifel
stellt diesbezüglich der Kostenfaktor Brennmaterialien das ausschlaggebende
Motiv dar. Im Unterschied zur Saarindustrie und zu Lothringen verfügt Luxem¬
burg über keinerlei Kohlevorkommen. Die luxemburgische Eisen- und Stahl¬
industrie war also gänzlich abhängig von der Einfuhr an Koks und Feuerungs¬
kohlen, sei es aus Belgien, sei es aus Rheinland-Westfalen, Die Beschaffungs¬
preise für Koks und Kohlen bildeten den schwer wiegendsten Kostenfaktor in
Bezug auf die Gestehungspreise der luxemburgischen Eisen- und Stahlfabrikate.
Es scheint daher nicht weiter verwunderlich, dass luxemburgische Eisen- und
Stahlindustrielle, noch mehr als die Konkurrenz in den Kohlenrevieren, ihr
Augenmerk auf eine möglichst weit gehende Reduzierung des Kostenfaktors
Brennmaterialien richteten, ln Differdingen fand der Gedanke der Gichtgasnut¬
zung für Kraftmaschinen zusätzlich Nahrung durch die Versuche, welche die
Gesellschaft John Cockerill eben zu jener Zeit mit ihren kleinen Gichtgasmoto¬
ren in Seraing durchführte.
Anlässlich eines Besuches, den die Differdinger Unternehmensleiter Paul Wurth,
Paul Gredt und Alphonse München im Mai 1896 der Firma Cockerill in Seraing
zwecks Besprechung der Lieferung von Dampfmaschinengebläsen für das neue
Differdinger Hüttenwerk abstatteten, wurde ihnen vom Generaldirektor Adolphe
Greiner ein 8 PS Gichtgasmotor gezeigt, der seit Ende 1895 in der Reparatur¬
werkstätte der Hochofenabteilung in Betrieb war. (Als vorteilhaft für die Differ¬
dinger Unternehmensleitung sollte sich der Umstand erweisen, dass der damalige
Betriebsdirektor der Hochofenabteilung in Seraing, in dessen Zuständigkeits¬
bereich die Erprobungsversuche der Cockerillschen Gichtgasmotore im Betrieb
fielen, der Luxemburger Ingenieur Emile Hiertz war.) Paul Wurth fragte bei dieser
Gelegenheit, ob die Firma Cockerill einen größeren Motor - von etwa 60 PS - für
14 Paul Wurth, Masch. u. handsch. Fragment zur Geschichte des Differdinger Hüttenwerks,
14 S. (1935), BNL Fonds Jules Mersch, dossier Paul Wurth.
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