Begründungen Schadensersatz.16 Sogar dann, wenn sich - wie im Falle von
Sprengungen in einem Steinbruch - der Arbeitnehmer nicht an die Sicherheits¬
vorschriften gehalten hatte, lief der Arbeitgeber Gefahr, daß das Gericht - so
1843 die Cour de Paris17 - den Schluß auf eine Verletzung seiner Aufsichts¬
pflichten zog und ihn deshalb verurteilte. Die Urteilssammlungen vermitteln im
übrigen ganz den Eindruck, daß die Verhaltenspflichten, die dem Arbeitnehmer
auferlegt wurden, auch in der publizierten Rechtsprechung zahlenmäßig in den
Hintergrund treten. Die Tendenz war also im ganzen gesehen durchaus
arbeitnehmerfreundlich.
Warum aber wurde das Kriterium des Verschuldens, das dem Arbeitgeber
nachgewiesen werden mußte, in der späteren Diskussion und im Rückblick
dermaßen wichtig, daß in der Literatur fast ausschließlich davon die Rede ist
und die Rechtsprechung trotz etwelcher Schwankungen sich diese Sicht zu ei¬
gen machte? Ohne Zweifel beobachten wir einen Paradigmawechsel; in der
Rechtsprechung zu den Arbeitsunfällen wird er durch ein Urteil der Cour de
cassation aus dem Jahre 1870 markiert, das lange Zeit ein wichtiger
Leitentscheid bleiben sollte. Was noch Cambacérès mit der Kategorie der
Widerrechtlichkeit löste, wurde zunehmend zum Problem, obwohl - wie das
Beispiel der Arbeitsunfälle zeigt - die während langen Jahren praktizierte
Objektivierung von Verkehrspflichten der Arbeitgeberseite in der Regel noch
den Entlastungsbeweis erlaubte. Sicher steckt hinter diesem allmählichen
Umdenken eine Fragestellung, die in der deutschen Wissenschaft jener Zeit in
aller Gründlichkeit und mit tiefer Liebe zur Auseinandersetzung mit dem be¬
grifflichen Detail gepflegt wurde. Die culpa, das Verschulden, entwickelte sich
zusehends zu einem Zentralbegriff, der zudem moralisch aufgeladen wurde
durch die Vorstellung der Schuld, denn dem Täter wurde nun die Tat ethisch
vorgeworfen. Rudolf von Jhering hatte 1867 diese Entwicklung im Anschluß
an eine Reihe - auch in Frankreich rezipierter - Vorläufer in einem vielbeach¬
teten Aufsatz mit einem noch heute gern zitierten Satz auf den Punkt gebracht:
„Nicht der Schaden verpflichtet zum Schadensersatz, sondern die Schuld.“18
Diese Formel traf zwar zu jener Zeit schon in Deutschland in vielerlei Hinsicht
nicht zu, verbreitete sich aber dennoch in Europa wie ein Lauffeuer. Sie traf
die Stimmung auch in Frankreich, wo der Boden dafür schon bereitet war, und
vervollständigte das begriffliche Instrumentarium, mit Hilfe dessen nun das
Deliktsrecht neu interpretiert wurde. Jedes Urteil, das der alten Tradition ver¬
pflichtet bei der Widerrechtlichkeit und damit bei den Verkehrspflichten an¬
setzte und daher dem beklagten Arbeitgeber nur noch die Möglichkeit des
Entlastungsbeweises offen ließ, wurde nicht mehr als Beleg für das Kontinuum
16 Lyon 5 avril 1856, D.P. 1857.2.86; Paris 14 août 1852, D.P. 1853.2.75, vgl. Rép. D. 39
(1858) 308 f. (Responsabilité n° 96).
17 Paris 27 sept. 1843 (Ch. corr.) Rép. D. 39 (1858) 427 (Responsabilité n° 631).
18 Jhering, Rudolph: Das Schuldmoment im römischen Privatrecht, Giessen 1867, S. 40.
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