Im Anfangsstadium der Nationsbildung arbeitete eine Intelligenzschicht die
künftigen nationalen Ideen aus. In diesem Zusammenhang war zunächst der in¬
tensivierte Bildungsprozeß von zentraler Bedeutung, der vorerst fast aus¬
schließlich von der Geistlichkeit getragen wurde. Einzelne Geistliche steckten
die Ziele ab und formten nationale Symbole. Am Beginn stand die Kodi-
fizierung der nationalen Sprache als Schriftsprache, außerdem ging es um deren
Verbreitung als „grundlegendes kommunikatives Mittel in der nationalen Ge¬
sellschaft“. Zudem entwickelte die geistliche Intelligenz „politische Program¬
me, nationale Ideologien, kulturelle Impulse, aber auch nationale Mythologien
und propagandistische Stereotypen.“35
Bei den Ruthenen Galiziens kann die Zeitspanne 1772-1848 als erste Phase des
nationalen Erwachens bezeichnet werden. Diesen Weg schritten die wenigen,
zumeist geistlichen Intellektuellen mit tatkräftiger Unterstützung Österreichs ab.
Durch die Reformen Maria Theresias und Josephs II., die Religion und
Erziehung betreffend, bot Wien die ersten Grundlagen dazu. Mit Beginn der
zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts galt das Augenmerk Wiens verstärkt den
unierten Kirchen in diesen Regionen. Durch Dekrete 1773 und 1774 wurde ver¬
fügt, daß die Kirchen bei den Rumänen und Ruthenen künftig als „katholische
Kirchen griechischen Ritus“ oder „griechisch-katholisch“ bezeichnet werden
sollten. Nicht nur durch diese Eigenbezeichnung wurde allgemein eine
Aufwertung intendiert.36
Auch erhielten die griechisch-katholischen Gläubigen in Galizien und
Siebenbürgen eine eigene Metropolie (1808 in Lemberg und 1853 in Blasen¬
dorf).
Durch die Reformen im Erziehungswesen wurde der Schulunterricht in
Galizien obligatorisch und schließlich wurde in den Grundschulen in der
Landessprache unterrichtet. Das erste Lehrbuch wurde in die Landessprache
übersetzt, die eine Mischung aus Kirchenslavisch und der Lokalsprache war.
Ein weiterer entscheidender Schritt hin zu einer kulturellen und politischen
Nationalbewegung war die Einrichtung von Schulen für die Ausbildung eines
gelehrten Standes der Geistlichen.37 Für die höhere Ausbildung vor allem der
griechisch-katholischen Geistlichkeit hatte Maria Theresia in Wien das
35 Plaschka u.a. (Anm. 30), S. 54-55, 60.
36 Pelesz, J.: Geschichte der Union der ruthenischen Kirche mit Rom von den ältesten
Zeiten bis auf die Gegenwart, Bd. II, Wien 1880, S. 647-648; Suttner, Emst Christoph:
„Das religiöse Moment in seiner Bedeutung für Gesellschaft, Nationsbildung und Kultur
Südosteuropas“, in: Südosteuropa-Mitteilungen 37 (1997), Heft 1, S. 3; allgemein dazu
auch Rudnytsky, Ivan L.: „The Ukrainians in Galicia under Austrian Rule“, in: Ders.,
Essays in Modern History. Edmonton 1987, S. 315-352.
37 Turczynski (Anm. 17), S. 120ff.; zu dieser ersten Phase siehe auch Kozik, Jan: The
Ukrainian National Movement in Galicia, 1815-1849, Edmonton 1986.
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