Graubünden haben wir eine konstante Abnahme der ladinischen Sprecher, in
der Provinz Bozen eine Zunahme um ca. 40 %. Dies ist verdächtig. Es ist hier
gelungen, den Rückgang der ladinischen Sprache durch eine Steigerung des
„ladinischen Bewußtseins“ zu vernebeln. Man hat im Grödnertal gemerkt, daß
man über die Sprachgruppenangabe „ladinisch“ materielle Vorteile erlangen
kann: Staatsstellen, Sozialwohnungen und anderes mehr.
Man kann vermutlich zu Recht sagen, daß die sprachlichen Minderheiten in
Südtirol den weitestgehenden Minderheitenschutz in der ganzen Welt genießen.
Die Folge ist, daß man nach einer Studie der Wirtschaftszeitung “II sole 24
ore" feststellen kann, daß von den 95 italienischen Provinzen Südtirol die
„höchste Lebensqualität und mit 1,9 % die niedrigste Arbeitslosenquote von
ganz Italien hat“. Immerhin stellt diese Untersuchung auch fest, daß Südtirol
für jeden Südtiroler Bürger vom Staat eine Geldsumme erhält, die jene, die
z.B. ein Neapolitaner bekommt, um das Zwanzigfache übersteigt (Grigolli S.
339; Heiss: „Grundlage eines hochdotierten Landeshaushalts“). Ich bin der
Ansicht, daß sprachlicher Minoritätenschutz selbstverständlich zu befürworten
ist. Man kann sich aber fragen: Weshalb soll ein ladinisch Sprechender im
Grödnertal anders behandelt werden als einer, der die gleiche Sprache spricht,
der gleichen ladinischen Kultur angehört, aber zufällig 10 km südlich, östlich
oder nördlich der Sellagruppe wohnt und rein zufällig nicht in der Provinz
Bozen lebt, sondern zu Trient oder Belluno gehört? Dies sind Auswirkungen
der bewußten Spaltung des ladinischen Sprach- und Kulturraumes unter
Mussolini. Diese Diskriminierungen scheinen mir heute ungerecht. Weshalb
muß es privilegierte Minderheiten geben (Aostatal, Südtirol), halbprivilegierte
Minderheiten (Sarden, Trentiner Ladiner, Friulaner) und unterprivilegierte
Minderheiten (Walser im Piemont, Zimber aus den Sette und Tredici Comuni,
Provinz Verona), deutschsprachige Bewohner von Bladen/Sappada (Provinz
Belluno), ohne von den Griechen und Albanern in Süditalien zu sprechen?
Auch diesen Halb- oder Unterprivilegierten wurde ein Minderheitenschutz in
der italienischen Verfassung von 1947 ausdrücklich zugestanden, unabhängig
von ethnischen, sprachlichen oder religiösen Unterschieden. Joachim Born
schreibt in seiner Dissertation (S. 28): „Man kann davon ausgehen, daß diese
Garantien nur auf dem Papier bestehen, da den ,Halbprivilegierten4 und den
,Unterprivilegierten4 das Recht auf freie Verwendung der Muttersprache nicht
gewährt wird.“ Ich würde sagen, dieses Recht wird zwar „gewährt“; dies reicht
aber nicht aus, damit die Minderheitensprache auch gesprochen wird. Es
braucht staatlich abgesicherte Schutzmaßnahmen, wie dies in der Provinz
Bozen heute dank der geschichtlichen Entwicklung gehandhabt wird.
Der Sprachgruppenproporz, die Zwei- oder gar Dreisprachigkeit der Ver¬
waltungen, die freie Schulwahl und die freie Wahl der Amts- und Gerichts¬
sprache sind alle positive Errungenschaften. Bedenken sollte man freilich auch,
daß eine sogenannte Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung eine soziale und
regionale Mobilität, auch Mischehen und Assimilation der Bevölkerungs¬
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