Vergleich zu Österreich), punktuellen Schikanen, Repression und nationaler
Überheblichkeit vieler staatsnaher Zuwanderer und Dienststellen. Das faschisti¬
sche Regime lieferte den eigentlichen Grundimpuls für Option und Aus¬
wanderung von 1939, den die vor Ort rezipierte NS-Ideologie und Propaganda
als komplementäre Pull-Effekte wirkungsvoll verstärkten.
Bis zum Jahr 1943 wanderten nur rund 75.000 der 250.000 deutsch- oder ladi-
nischsprachigen Südtiroler ab, danach versiegte der Abwanderungsstrom, und
der von den Diktaturen gewünschte Prozeß ethnischer Flurbereinigung geriet
ins Stocken. Ein Großteil der Südtiroler, die die Heimat verließen, kam aus den
städtischen Räumen. Vor allem zogen Arbeiter, Angestellte, kleine Gewerbe¬
treibende über den Brenner ins Deutsche Reich, meist Angehörige sozial
schwacher Gruppen, die über eine wenig gesicherte Existenz verfügten. In
Bozen war der Emigrationssog besonders spürbar und verringerte den Anteil
der deutschsprachigen Bevölkerung. Er sank von rund 73% im Jahr 1921 auf
rund 38% (1939) und fiel bis 1951 auf 24% zurück. Im gleichen Zeitraum
wuchs die städtische Gesamtbevölkerung von 32.679 (1921) auf knapp 71.000
bei Kriegsbeginn, woran sich der rasante Urbanisierungsprozeß durch
Zuwanderung und Eingemeindung sowie der Grad sozialer Umschichtung im
Stadtgebiet leicht ermessen lassen. Die deutschsprachigen Bozner nahmen ihre
Identität aufgrund der demographischen Umschichtung als massiv bedroht
wahr, stützten sich allerdings auf ein anhaltend muttersprachlich geprägtes
Hinterland. Bozens Italiener hingegen durchliefen 1943-1945 einen dramati¬
schen Prozeß ethnischer Bewußtseinsbildung. Denn während der deutschen
Besetzung Italiens erfolgte eine „kalte Annexion“ der Provinz Bozen an das
Deutsche Reich, die italienischen Behörden wurden weitgehend entmachtet, an
ihre Stelle traten Wehrmacht, Machthaber des NS-Regimes und lokale deutsch¬
sprachige Honoratioren. Viele Italiener Bozens begriffen in dieser Phase zum
ersten Mal, daß ihre Sprachgruppe in Südtirol eine Minderheit darstellte.37
Zuvor hatten sie ihre Umgebung kaum wahrgenommen und die Position und
Ansprüche ihrer deutschsprachigen Nachbarn verkannt. Nun entwickelten sie
grelle, zum Teil auch berechtigte Feindbilder über ihre deutschen Nachbarn,
die vielfach als „crucchi nazisti“ stigmatisiert wurden. Zudem befand sich mit¬
ten im italienischen Wohngebiet Bozens ein Zwischenlager der NS-Besatzer,
das Juden, politisch Verfolgte und Verbrecher aus ganz Italien erfaßte, ehe sie
in Gefängnisse, Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslager des Reiches
deportiert wurden. Viele Häftlinge wurden zur Zwangsarbeit in den kriegs¬
wichtigen Industriebetrieben Bozens herangezogen, wobei einige von ihnen
dank der Solidarität und Hilfe der Arbeiter untertauchen konnten.38
37 Vgl. Romeo, Carlo: „Die italienische Bevölkerung Südtirols in den Jahren 1943-1945“,
in: Der Schiern 68 (1994), S. 532-537.
38 Vgl. Romeo: „Fabrik in Neu-Bozen“, S. 93 f.
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