verwundet, während einer namens Grymmener vor Ludwig auf die Knie fällt und um
Gnade bittet. Er sagt, sie könnten ihn gewiß gut brauchen, denn er sei ein Meisterdieb.
Ludwig nimmt seine Dienste an, und Grymmener führt sie zu einem Einsiedler. Es ist der
Bruder des Kaisers von Konstantinopel. Er empfängt sie freundlich und teilt das bißchen
Brot, das er hat, mit ihnen. Sibille erzählt ihrem Onkel ihre Geschichte. Dann bietet sich
Grymmener an, in die nahe Stadt zu gehen und etwas zum Essen zu organisieren. Er ver¬
schafft sich, als Krüppel aufgemacht, mit geschwärztem Gesicht und an Krücken gehend,
Eintritt in das Haus des reichsten Mannes, wo er mit einem Zauber alle in tiefen Schlaf
versenkt, so daß er sich mit kostbaren Gerätschaften, Kleidern und Geld davonmachen
kann. Er verbirgt alles draußen in einem Felsloch. Dann geht er, wieder in seiner norma¬
len Gestalt, in die Stadt zurück und kauft ein, wobei zur Sprache kommt, daß der reiche
Mann die Leute ausgeraubt habe, so daß man sich allgemein befriedigt zeigt über das, was
ihm geschehen ist. Einem alten Bauern nimmt Warakir dann den Esel ab und bringt Raub
und Kauf hinaus zur Einsiedlerklause, wo die vier zusammen mit dem Meisterdieb sich
gütlich tun. Darauf reist man gemeinsam weiter, seltsamerweise über Rom, wo der Papst,
nachdem er sich alles hat erzählen lassen, ein Schiff bereitstellt und selbst mit nach Kon¬
stantinopel fährt.
Sibille geht auf ihrem Weg von Frankreich nach dem Osten durch eine zwar, wie gesagt,
geographisch einigermaßen konkrete, aber — bis auf die punktuellen Berührungen mit dem
ungarischen und dem byzantinischen Hof — unhöfische Welt. Ihr Helfer ist ein Bauer, ei¬
ne groteske Figur in seiner Häßlichkeit und mit seinen Augen von unterschiedlicher Farbe
und dem einen Schuh. Aber er stellt sich bedingungslos in den Dienst der Königin, ja er
gibt alles preis, Auskommen und Familie, um sie nach Konstantinopel zu ihrem Vater zu
bringen. Unterwegs werden sie meist gut aufgenommen, man hilft den Flüchdgen selbst¬
los, ja der König von Ungarn bemüht sich persönlich um das unbekannte Kind mit dem
wunderbaren Mal auf der Schulter. Es gibt zwar auch in dieser Welt das Böse und die
Täuschung. Aber beides ist unproblematisch. Das Böse ist banal: die Mörder im Wald sa¬
gen offen, daß sie Warakir und Ludwig totschlagen und die Königin vergewaltigen wollen.
Der Meisterdieb betrügt, aber er betrügt einen bösen Reichen, so daß selbst der fromme
Einsiedleronkel sich nach kurzem Bedenken das Diebsessen schmecken läßt.
Was bedeutet diese Problemlosigkeit, die so offensichtlich kontrastiv zum Karlshof ange¬
legt ist, in Hinblick auf Gut und Böse? Selbstverständlich nicht eine irgendwie natürliche,
unverdorbene Welt, die dem Ho Heben mit seinen Intrigen und Täuschungen entgegen¬
gehalten würde, oder gar ein Bekenntnis zu einer niedrigeren sozialen Schicht mit einem
höheren ethischen Standard. Warakir ist kein realistisch gezeichneter Bauer, er ist eine
Kunstfigur ohne ständische Implikationen. Als einschuhiger Helfer hat er eine lange und
sehr merkwürdige Ahnengalerie. Das Motiv der Einschuhigkeit taucht von der Antike bis
zur Gegenwart in einer kaum überschaubaren Fülle von Belegen und in unterschiedlichen
Motivationszusammenhängen auf25. Der älteste bekannte Monosandalos ist Jason, der Ar¬
25 Ich entnehme die nachstehenden, ausgewählten Materialien zu diesem Motiv der reichhaltigen, grundle¬
genden Studie von Vajda, Läszlö: „Der Monosandalos-Formenkreis“, in: Baessler-Archiv. Beiträge %ur Völ¬
kerkundeNF 37 (1989), S. 131-170.
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