man ein Bestreben, sich in memoriale Zusammenhänge einzubinden, nicht in Abrede stel¬
len wollen. Jedenfalls kristallisiert sich als Ergebnis all dieser Überlegungen vom gesell¬
schaftspolitischen Interesse her heraus, daß Elisabeths Werk der üblichen Funktion von
Hofliteratur verpflichtet gewesen sein dürfte. In Stichworten: herrscherliche Selbstdarstel¬
lung, historisch-dynastische Anbindung, Anleitung zu ständisch vorbildlicher Lebensform,
literarische Überhöhung der eigenen Welt durch eine heroische Vergangenheit12.
Doch so zutreffend all dies im Prinzip sein mag, es fragt sich doch, ob man sich damit zu¬
friedengeben muß. Sollte man nicht darüber hinaus auch hier das versuchen, was ja die
vornehmste Aufgabe des Literaturhistorikers ist, nämlich ein bestimmtes Oeuvre wirklich
zu interpretieren, d.h. es zu interpretieren nach der literarischen Leistung, nach der Art
und Weise, in der eine spezifische Thematik behandelt wird, nach der Bewältigung der in
dieser Thematik angelegten Probleme?
Aber greift eine solche Frage hier überhaupt? Jedenfalls kam man bisher, soweit ich sehe,
nie auf den Gedanken, sie zu stellen. Denn man sah in dem Chanson de geste-Typus, den
Elisabeth aufgegriffen hat, eine dekadente Spätform: grob, grell und niveaulos. Was sollte
es da zu interpretieren geben? Und Elisabeths Leistung beschränkte sich dabei nach all¬
gemeiner Ansicht auf eine einigermaßen ordentliche Umsetzung ins Deutsche, und selbst
dies mochte man ihr nicht ohne Vorbehalte zugestehen. Wolfgang Liepe hat in seiner
grundlegenden Monographie von 1920, auf die man sich weithin noch immer beruft, das
geltende Bild geprägt13. Er hat, soweit dies möglich war, herausgearbeitet, wie sie mit ihren
Quellen umgegangen ist, wo und weshalb sie eingegriffen hat: es handelt sich vor allem
um Kürzungen und um Milderungen von Drastischem. Aber schon hierbei bewegt man
sich auf unsicherem Boden. Denn wir haben die direkten französischen Vorlagen nicht,
nach denen Elisabeth gearbeitet hat — mit einer Ausnahme vielleicht: ein vor zehn Jahren
überraschend aufgefundenes Bruchstück des ‘Lohier et Malart’ könnte zu jener Abschrift
gehört haben, die die Mutter herstellen ließ14. Aber das sind nur 160 Verse. Wenn es aber
nicht möglich ist, die Übersetzung genau mit der Vorlage zu vergleichen, können wir auch
Elisabeths Leistung nicht zureichend beurteilen.
Darf man aber wenigstens an ihrer literarhistorischen Bedeutung festhalten? Verdankt
man ihr nicht die epochale Leistung, den frühneuhochdeutschen Prosaroman begründet
zu haben? Selbst dies hat man inzwischen in Zweifel gezogen, jedenfalls was das Pro¬
gammatische des Unternehmens betrifft. Wollte Elisabeth mit ihren Prosabearbeitungen
wirklich einen innovativen Schritt tun? Möglicherweise war sie einfach nicht fähig, Verse
zu schreiben.
12 Die Stichworte umreißen Jan-Dirk Müllers Position (wie Anm.2), S. 21.
13 Liepe, Wolfgang: Elisabeth von Nassau-Saarbrücken. Entstehung und Anfänge des Prosaromans in Deutschland,
Halle 1920.
14 Molk, Ulrich: „Lohier et Malart. Fragment eines verschollenen französischen Heldenepos“, in: Nachrich¬
ten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. I. Philologisch-historische Klasse (1988), S. 135-164, vgl. jetzt
auch in diesem Band S. 427-457.
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