Stellungen. Denn Huge könne noch unbelastet von Zwängen agieren, wie sie den Adel in
der realgeschichtlichen Situation des ausgehenden Mittelalters und der beginnenden Neu¬
zeit immer stärker einschränken würden. Die Einengung adliger Möglichkeiten zur Ge¬
waltausübung, insbesondere die Möglichkeit zur Fehdeführung, wird dabei primär auf po¬
litische Gründe, auf die sukzessive Durchsetzung des fürstlichen bzw. staatlichen Ge¬
waltmonopols, zurückgeführt8. Zudem hätten gleichfalls sich wandelnde zivilisatorische
Standards dafür gesorgt, daß ungehemmte Gewaltausübung und Affektentladung, wenn
nicht unmöglich gemacht, so doch mehr und mehr geächtet worden seien9. Kaum subli¬
mierte Gewalt und ungezügelte Triebauslebung, die sich, was viele Interpreten lange Zeit
irritiert hatte, über weite Passagen des ‘Huge Scheppel’ und der übrigen Saarbrücker Pro¬
sahistorien erstrecken, ließen sich durch einen solchen Deutungsansatz sehr viel besser
verstehen. Mußte die Schilderung dieser Affekte doch nun nicht länger als im 15. Jahr¬
hundert bereits anachronistische Rudimente einer archaischen Vorzeit gedeutet werden,
sondern verwies jetzt indirekt auf den erfolgreichen Abschluß des Territorialisierungspro¬
zesses sowie auf zivilisatorische Standards, hinter denen bereits die Moderne am Horizont
sichtbar wurde. Seither gelten implizit auf die anbrechende Neuzeit verweisende Gewalt
und ungezügelte Triebhaftigkeit, bzw. die vermeintliche Schilderung von deren Überwin¬
dung, nicht selten als das eigentliche Faszinosum der Texte10.
8 Müller, Jan-Dirk: „Held und Gemeinschaftserfahrung. Aspekte der Gattungstransformadon im frühen
deutschen Prosaroman am Beispiel des ‘Hug Schapler’“, in: Daphnis 9 (1980), S. 393-426; Seitz, Dieter:
„Der Held als feudales Wunschbild. Zur historischen Bewertung des Typus Hug Schapler“, in: Horst
Wenzel (Hg.): Typus und Individualität im Mittelalter, München 1983 (Forschungen zur Geschichte der Älte¬
ren Deutschen Literatur 4), S. 123-139.
9 Vgl. in diesem Sinne Müllers Nachwort zum Erstdruck des Hug Schapler (wie Anm. 1), S. 1110-1116
bzw. sein Vorwort zur Mikrofiche-Edition des Huge Scheppel (wie Anm. 1), S. 28f.
10 Vgl. etwa Sauder, Gerhard: „Elisabeth von Nassau-Saarbrücken und ihre Prosaromane“, in: Saarländische
Lebensbilder. Bd. 1, Saarbrücken 1982, S. 31-56 und insbesondere Burchert, Bernhard: Die Anfänge des Pro¬
saromans in Deutschland. Die Prosaergählungen Elisabeths von Nassau-Saarbrücken, Frankfurt/M. u.a. 1987 (Eu-
rop. Hochschulschriften, Reihe I, 962); ders.: „Auf dem Weg zum Roman. Anmerkungen zu der Gat¬
tungskontroverse um den ‘Hug Schapler’“, in: ZfdPh 107 (1988), S. 400-410; gestützt auf die Zivilisati¬
onstheorie von Norbert Elias glaubt Burchert einen fortschreitenden Prozeß gelingender Affekt- und
Triebbeherrschung von ‘Herpin’ über ‘Sibille’, ‘Loher und Maller’ bis zu ‘Huge Scheppel’ zu erkennen,
den er als Erziehungsprogramm für Elisabeths Sohn Johann versteht. Abgesehen von groben Verzeich¬
nungen der historischen Hintergründe und der selektiven Textdeutung krankt seine Interpretation an der
nicht hinterfragten Übernahme ungesicherter Prämissen. So ist z.B. weder die als Grundlage von Bur-
cherts Theorie dienende genaue Produktionsfolge der einzelnen Bearbeitungen zu erweisen, noch die
Autorschaft Elisabeths über jeden Zweifel erhaben. Ähnlich problematisch ist auch der Ansatz von S.
Morrison, die ihre Auffassung einer durch Frauen bewirkten Pazifizierung Huges in letzter Konsequenz
aus der Autorschaft Elisabeths ableitet; vgl. Morrison, Susan Signe: „Women Writers and Women Ru-
lers: Rhetorical and Political Empowerment in the Fifteenth Century“, in: Women in German Yearbook 9
(1993), S. 25-48. Zur Problematik der Autorenschaft Elisabeths vgl. Spiess, Karl-Heinz: „Zum Gebrauch
von Literatur im spätmittelalterlichen Adel“, in: I. Kasten / W. Paravicini / R. Perennec. (Hgg.): Kulturel¬
ler Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter, Sigmaringen 1998 (Beihefte der Francia 43), S. 85-101,
hier S. 98ff.
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