Entgrenzte Gesänge:
Späte französische Heldenepik als Inspirationsquelle für Elisabeth von
Nassau-Saarbrücken
Wolf-Dieter Lange
1. Altfranzösische Anfänge und die Entstehung der Chansons de geste
Seit den siebziger Jahren des 8. Jahrhunderts holte Karl der Große bedeutende zeitgenös¬
sische Gelehrte an seinen Hof, um die Bildung zunächst einmal der Geistlichkeit zu ver¬
bessern. Seine Epistola de litteris colendis (784/785 oder zwischen 794 und 797) an den
Abt Baugulf in Fulda weist in diesem Sinne nachdrücklich auf die Bedeutung von in¬
dividueller Kultur und weltlicher Gelehrsamkeit hin, die besonders aus den Schriften rö¬
mischer Autoren zu gewinnen sind1. Um Zugang zu ihnen zu finden, müssen jedoch zu¬
nächst die Lateinkenntnisse verbessert werden, denn um sie steht es bekanntlich in Karls
Reich schon längst nicht mehr gut: Die romanische Volkssprache, die sich seit der Erobe¬
rung Galliens durch Caesar in jahrhundertelangen Prozessen aus der gesprochenen Vari¬
ante der Sprache Roms herausschälte, bestimmt in ihrer Eigenschaft als tägliches Kom¬
munikationsmedium zunehmend den Rahmen des Verständnisses. Grammatisch nicht fi¬
xiert und schriftlos, setzt sie gleichwohl zum Sturm auf die Zitadelle des Lateinischen an,
um sie schließlich zu schleifen. Die ersten Schritte dazu sind behutsam: 813 räumt das
Konzil von Tours ein, daß schon viele Gläubige lateinische Predigten nicht mehr verste¬
hen, die Geistlichen sollen ihre Textauslegungen daher von nun an in der romanischen
(und deutschen*) Volkssprache vornehmen: „[...] in rusticam Romanam linguam aut theotis-
cam, quo facilius cunctipossint intellegere, quae dicuntur [.,.]“2; und als sich die Enkel Karls des
Großen, Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle, am 14. Februar 842 in Straßburg er¬
neut ihrer gegenseitigen Bündnistreue versichern, spricht Ludwig zum Heer Karls in einer
der romanischen Volkssprache angenäherten Kanzleisprache, darauf legt das westfränki¬
sche Heer seinen Eid in derselben Sprachform ab: Dies ist die Geburtsstunde des Franzö¬
sischen, denn die ‘Straßburger’ Eide gelten als das älteste Dokument in französischer
Sprache3.
Im Jahr 878 werden die Reliquien der heiligen Eulalia aus Merida ins Reich der Westfran¬
ken überführt. Auf diesem Ereignis und auf einer literarischen Tradition, die bis zu der
Hymnensammlung ,Peristephanon‘ des Prudentius (348 - um 405) zurückreicht, fußt das
kleine Preislied über das Martyrium der Spanierin, mit dem die Geschichte der französi-
1 Abgedruckt zum Beispiel in Stackeiberg, Jürgen von (Hg.): Humanistische Prosatexte aus Mittelalter und Re¬
naissance, Tübingen 1957, S. 1 ff.
2 Hier zitiert nach Eggers, Hans: Deutsche Sprachgeschichte, Bd. 1: Das Althochdeutsche, Reinbek b. Ham¬
burg 1963, S. 42.
3 Vgl. dazu etwa Wolf, Heinz Jürgen: Französische Sprachgeschichte, Heidelberg 1979, S. 55 f. Der Text findet
sich auch in Henry, Albert (Hg.): Chrestomathie de la littérature en ancien français, Bd. 1: Textes, Bern 21960, S.
1 f.
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