Vorgehen ihres verstorbenen Mannes abhebt49. Trotz notwendiger und wichtiger Berater
war sie selbst als Regentin aktiv, und es gibt keinen Grund zu der Annahme, warum sie
zwar selbst zu Verhandlungen mit Lehnsherren oder Dienstleuten aufbrechen, aber das
Abfassen so prekärer Briefe wie der vorliegenden ganz einem Kanzleischreiber überlassen
sollte. Ich stimme daher auch nicht mit Jürgen Herold (in diesem Band) überein, daß sich
die Einflußnahme Elisabeths nur ex negativo aus der Kenntnis ihrer beratenden Umge¬
bung erschließen lasse. Die Meinung von Karl-Heinz Spieß, Elisabeth sei des Deutschen
nicht genügend mächtig gewesen, um Briefe dieser Art (oder deutsche Übertragungen
französischer chansons de geste) schreiben zu können, teile ich ebenfalls nicht.50 Spieß be¬
zieht sich dabei auf eine Passage aus einem Brief an René vom 4. Juni 1432 (Nr. 41): Als
umr gnade mir von Warsberges wegen hait dun schriben, den brieff han ich entgangen und begem uwem
gnaden gu wissen, dag ich mjne amptlude und redte und die jhene, die soliche brieffe gu dutschem versten-
tenisse brengen mochten, ytge nit bij mir, sonder sij an den Ryn gu ernstlichen treffe liehen dagen geschicket
han, dar umb ich uwem gnaden gu dieser gi/t nit follenclich uff soliche schrifft geantwerten kan. Solche
Äußerungen, sie müsse erst auf ihre Räte warten bzw. diese zusammenrufen, tauchen häu¬
fig in den Briefen Elisabeths auf, oft in für sie unangenehmen Situationen, wenn sie sich
Forderungen von Höhergestellten gegenüber sieht. Sie sind daher meines Erachtens ein
deutliches Zeichen von Verzögerungstaktik, gepaart durchaus mit dem Bestreben, sich
durch die Meinung ihrer Berater Rückendeckung zu verschaffen. Daß die Anmerkung
sich in diesem Fall auf die Kenntnis der deutschen Sprache bezieht — der einzige Fall im
vorliegenden Korpus —, macht den erbetenen Aufschub nur umso unangreifbarer und
könnte sich zudem vielleicht auf eine Unsicherheit bezüglich feststehender Rechtstermini
beziehen. Sollte die genaue Wahl der Formulierungen auch auf einen kenntnisreichen und
vertrauenswürdigen Kanzleischreiber Elisabeths zurückgehen, so widerspricht dies doch
nicht dem (in Grenzen) originellen und durchdachten Eindruck, den die Briefe machen,
und der These, Elisabeth müsse im Interesse ihrer eigenen Regierungstätigkeit auf den Stil
der Abfassung Einfluß gehabt haben.
Aus oben Gesagtem und Gezeigtem ergibt sich, daß Individualität’ in spätmittelalterli¬
chen Briefen nicht die sprachliche Einmaligkeit und Einzigartigkeit, der unverwechselbare
Individualstil sein kann - dafür sind Epochen- und Funktionalstil zu dominant -, sondern
ein Ausdruck der Fähigkeit zur Variation und Erweiterung vorhandener Muster des
betreffenden Funktional- und Epochenstils und eine differenzierte Art von Selbstdarstel¬
lung und Selbstbehauptung zum Zwecke erfolgreichen Kommunizierens im Sinne von In¬
teressenwahrung und -durchsetzung.
Vergleiche mit anderen, situativ ähnlichen Bedingungen unterworfenen (geschäftlichen)
Briefwechseln derselben Zeit könnten helfen, den vorhandenen Spielraum weiter auszulo¬
49 Siehe dazu den Beitrag von Hans-Walter Herrmann in diesem Band, S. 82-85.
50 Spieß, Karl-Heinz: „Zum Gebrauch von Literatur im spätmittelalterlichen Adel“, in: Kasten, Ingrid/ Pa-
ravicini, Werner/ Pérennec, René (Hgg.): Kultureller Austausch und Uteraturgeschichte im Mittelalter, Sigmarin¬
gen 1998 (Beihefte der Francia 43), S. 81-96, S. 95.
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