Full text: Zwischen Deutschland und Frankreich

Individuelle Züge in spätmittelalterlichen Briefen am Beispiel der 
Elisabeth von Nassau-Saarbrücken 
NinaJanich 
1. Einleitung 
Georg Steinhausen bestreitet in seiner 1889 erschienenen ,Geschichte des deutschen Brie¬ 
fes, die Existenz brieflicher Individualität im Spätmittelalter: „Zu keiner Zeit hat aber die 
Form mehr gegolten, ist mehr geheiligt gewesen, als im Mittelalter. Ihr Übergewicht, ihre 
ewige Gleichheit und Gesetzlichkeit erstickte jede Individualität und ließ sie nicht auf- 
kommen. Namentlich in dem ausgehenden Mittelalter (...) tritt das Formelle und Kon¬ 
ventionelle stark hervor.“1 
Trifft dies schon auf die von Steinhausen besonders ins Auge gefaßten Privatbriefe zu, so 
ist Einförmigkeit und Formelhaftigkeit in geschäftlichen Briefen wohl noch viel mehr zu 
erwarten. Die Existenz und traditionsreiche Vergangenheit von Kanzlei-, Formular- und 
Titularbüchern sowie Briefstellern, also Sammlungen von Brief- und Urkundenmustern, 
scheint diese These zu bestätigen. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts liegen zahlrei¬ 
che lateinischsprachige Briefsteller und Formularbücher und auch schon erste deutsch¬ 
lateinische und rein deutschsprachige Mustersammlungen vor2. Die letzteren können je¬ 
doch erst ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts als verbreitet gelten3. 
Im ausgehenden Mittelalter existierte also ein festes Normengerüst zumindest für die ge¬ 
schäftliche Briefkommunikation, das bis in die private Korrespondenz hineinwirkte. Zu 
diesen Normen zählten ein streng festgelegter, an der Rhetorik orientierter Briefaufbau, 
detaillierte, standesabhängige Anredevorgaben und ein ebenfalls ständisch geregelter 
Ehrwörtergebrauch. Die Mustersammlungen ,vorbildlicher’ realer oder fiktiver Briefe be¬ 
inhalteten selbst Anweisungen für einzelne adressaten- und absenderspezifische Formulie¬ 
rungsmuster innerhalb der Narratio eines Briefes, dies umso mehr, wenn es sich um 
rechtsverbindliche Termini und Redewendungen handelte: ,,[D]er ohnehin schon konven¬ 
tionelle Brief wird zum einfach ausfüllbaren Formular [,..].“4 Laut Reinhard Nickisch 
1 Steinhausen, Georg: Geschichte des deutschen Briefes, /ur Kulturgeschichte des deutschen Volkes, Erster Teil, Dub¬ 
lin/ Zürich 1968 [Unveränderter Nachdruck der 1. Aufl. von 1889], S. 39. 
2 Rockinger, Ludwig: Über foimelbücher vom dreizehnten bis zum sechzehnten jahrhundert als rechtsgeschichtliche quel¬ 
len, München 1855, S. 75-79. 
3 Zur Geschichte der Formularbücher vgl. den Abriß bei Nickisch, Reinhard M.G.: Die Stilprinzipien in den 
deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts. Mit einer Bibliographie ZV Briefschreiblehre (1447-1800), Göt¬ 
tingen 1969 (Palaestra. Untersuchungen aus der deutschen und englischen Philologie und Literaturge¬ 
schichte 254), S. 17-21, und die dort angegebene weiterführende Literatur. Vgl. außerdem Rockinger: 
Überformelbücher (wie Anm. 2), S. 98 und Müller, Johannes: Quellenschriften und Geschichte des deutschsprachli¬ 
chen Unterrichtes bis %ur Mitte des 16. Jahrhunderts, Hildesheim/ New York 1969 (Documenta Linguistica. 
Reihe V: Grammatiken des 16. bis 18. Jahrhunderts) [Reprograf. Nachdruck von 1882], S. 361 f. 
4 Steinhausen: Geschichte des deutschen Briefes (wie Anm. 1), S. 104. 
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