um 1300 rekonstruieren läßt, hat Emmanuel Le Roy Ladurie in seiner Monographie
über das Pyrenäendorf Montaillou9 gezeigt.
Die Heranziehung inquisitorischen Aktenmaterials provoziert freilich zugleich einen
naheliegenden Einwand: Darf man als Historiker vorbehaltlos auf Niederschriften
vertrauen, die von entschiedenen Ketzergegnem veranlaßt wurden? Ist überhaupt
denkbar, daß die Aussagen der Verfolgten ohne tendenziöse Entstellungen festgehal¬
ten wurden? Das gelegentlich vorgebrachte Argument, der für Montaillou zuständige
Inquisitor, Jacques Foumier, sei ohne das Instrument der Folter ausgekommen,10
reicht jedenfalls nicht aus, um die Glaubwürdigkeit der Protokolle zu erweisen. Es ist
zur Genüge bekannt, daß die befragten Zeugen und Angeklagten unter erheblichem
psychischem Druck standen, der das jeweilige Aussageverhalten nicht weniger stark
beeinflußt haben dürfte als direkte Gewaltanwendung. Was andererseits entschei¬
dend für die Akkuratheit der inquisitorischen Ermittlungen spricht, ist das erklärte
Ziel einer möglichst effizienten Ketzerbekämpfung. Beispielhaft dafür ist die Vorge¬
hensweise des schon erwähnten Jacques Foumier, des seinerzeitigen Bischofs von
Pamiers (1317-1326) und späteren Papstes Benedikt XII. (1334-1342).11 Wie die
meisten Avignoneser Päpste war er ein ausgewiesener Verwaltungsexperte; sein spe¬
zielles Interesse galt demgemäß den Organisationsformen der verfolgten Katharer,
ihren Kommunikationsstrukturen, ihren Flucht- und Reisewegen, kurz: ihrer gesam¬
ten Logistik. Um derartige Erkenntnisse zu gewinnen, bedurfte es einer differenzier¬
ten und einfühlsamen Befragung; an der Aufzeichnung erpreßter Falschaussagen
konnte dem Inquisitor wenig gelegen sein. Bei aller ideologischen Voreingenom¬
menheit dürfen folglich die überlieferten Vemehmungsprotokolle, soweit sie das
Phänomen katharischen Grenzgängertums erfassen, als aufschlußreiche und im we¬
sentlichen zuverlässige Quellen herangezogen werden.
Nicht nur wegen der günstigen Quellenlage erweist sich im Rahmen der skizzierten
Fragestellung der südfranzösische Katharismus als ein besonders geeignetes Unter¬
suchungsobjekt. Denn abgesehen von den böhmischen Hussiten hat sich wohl kaum
eine mittelalterliche Häresie in Selbstdarstellung und Fremdwahmehmung so betont
mit einer bestimmten Region identifiziert, wie es die sogenannten Albigenser im
Languedoc taten. Zur Veranschaulichung dieses ausgeprägten Eigenbewußtseins
mag eine anekdotische Begebenheit dienen, die der Zisterzienser Petrus von Vaux-
Cemay in seiner Historia Albigensium mitteilt: Als sich der spanische Bischof Diego
von Osma 1206 in der Nähe von Montpellier aufhielt, kam es zwischen ihm und zwei
führenden Katharern zu einem achttägigen, letztlich ergebnislosen Streitgespräch.
Einer seiner beiden Kontrahenten war ein gewisser Theodoricus, der aus Frankreich
stammte (de Gallia oriundus) und in Nevers ein Kanonikat innegehabt hatte, bevor er
wegen seiner häretischen Neigungen in den Süden (adpartes ... Narbonenses) flie¬
9 Emmanuel Le Roy Ladurie, Montaillou, village occitan de 1294 ä 1324, Paris 1975.
10 Auf diesen Umstand beruft sich Matthias Benad, Domus und Religion in Montaillou. Ka¬
tholische Kirche und Katharismus im Überlebenskampf der Familie des Pfarrers Petrus
Clerici am Anfang des 14. Jahrhunderts (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 1),
Tübingen 1990, S. 1 u. 9-14.
11 Zu seiner Biographie s. Bernhard Schimmelpfennig, Art. B(enedikt) XII., in: Lexikon des
Mittelalters I (1980), Sp. 1861 f.
63