Wahrscheinlich dürften in diesem Modell überwiegend die verschiedensten „Gei¬
stesarbeiter/innen“ anzutreffen sein, deren ‘Internationalismus’ beispielsweise von
sehr viel weniger strukturellen Grenzrahmen begleitet ist als der utopische der Arbei¬
terklassen.
Die allgemeine Soziologie beschäftigt sich in der Regel mit dem ‘Wanderer-Modell’
und in Teilen mit dem ‘Streckenwärter-Modell’. In beiden werden bestimmte Ver¬
haltensweisen unter räumlichen Bezügen betrachtet. Simmel analysiert am eindeu¬
tigsten solches Raumverhalten im Sinne eines Bewegungsvorganges von Kollektiva,
also sozialen Gruppen in und über Raumgrenzen hinweg. Die politisch-staatlichen
Grenzen stellen dabei nur einen Sonderfall dar. Obwohl Simmel den Begriff des
Grenzgängers/der Grenzgängerin, soweit ich sehe, nicht benutzt, spricht er implizit
diesen Typus bei seinen Migrationsgruppen, den fremdwandemden Händlern, dem
Nomadismus an.
P. Bourdieu kennt zwar ein kompliziertes Sozialraum-Modell, in welchem der Raum
der sozialen Positionen und der Raum der Lebensstile der jeweiligen sozialen Klas¬
sen wechselwirkend eine dynamische Einheit bilden, doch obwohl er um den konkre¬
ten Raum-Anspruch des sich körperlich in den sozialen Feldern bewegenden Men¬
schen weiß, gilt sein Interesse wesentlich den, wie er sagt, „magischen Grenzen“,
etwa zwischen männlich und weiblich, „zwischen denen, die vom Bildungssystem
erwählt und denen, die ausgestoßen wurden“.16 Die fines einer Region, einer regio -
als Land, als bestimmtes Territorium, verweisen folglich immer darauf, nach wel¬
chem Prinzip die legitime Gliederung der sozialen Welt durchgesetzt wurde. Im
Grunde handelt Bourdieu mehr von den Eingeschlossenen, den in den Raumgrenzen
Handelnden, als von den Grenzüberschreitenden. Seine Distinktionstheorie ist eine
Theorie der Grenzziehungen. Diejenigen, die mit Hilfe der ihnen zur Verfügung ste¬
henden Kapitalsorten neue Positionen, neue Lebensstile eingenommen haben, de¬
monstrieren Alltagsverhalten.
Die phänomenologische, kulturtheoretische und kultursoziologische Theorie präfe-
nert eigentlich keines der skizzierten Modelle. Wie schon gesagt, tendiert sie stark zu
den außergewöhnlichen, außeralltäglichen, randständigen Formen der Grenzüber¬
schreitung. In den Blickpunkt gerät das nicht routinisierte Verhalten.
Meine Überlegungen im Hinblick auf eine soziologische Typologie von Grenzgän-
gem/innen, die empirisch verwendbar ist, fasse ich wie folgt zusammen:
In einer Welt, die wirtschaftlich zunehmend durch Globalisierung, politisch durch
supra-nationale Organisationen und soziokulturell durch Regionalisierung - im Sin¬
ne von A. Giddens als raumzeitliche Differenzierung des Alltagsverhaltens - gekenn¬
zeichnet ist, werden auch die Prozesse der Entgrenzung fortschreiten und damit zu
vielfältigen Formen neuer und alter Grenzüberschreitung führen: Flucht, Vertrei¬
bung, Asyl, Massentourismus, Migration usw. Will man an einem besonderen Typus
des Grenzgängers/der Grenzgängerin festhalten, dann bietet sich zu seiner Konstruk¬
tion die Kategorie des Grenzarbeitnehmers als Vorlage an.
16 Pierre Bourdieu, Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien
1990, S. 89.
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