tun, so bleibt für sie nur das Unwahre, und mit Gier und Eifer ist sie zu allen Zeiten
darüber hergefallen4... Die Juristen sind durch das positive Gesetz zu Würmern ge¬
worden, die nur von dem faulen Holz leben; von dem gesunden sich abwendend, ist
es nur das kranke, in dem sie nisten und weben. Indem die Wissenschaft das Zufällige
zu ihrem Gegenstand macht, wird sie selbst zur Zufälligkeit; drei berichtigende Wor¬
te des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu Makulatur.“5
Nach alldem, hochverehrter Kollege Schneider, stellt sich die Frage, ob Sie nicht ei¬
nen klassischen Doppelfehler begangen haben, als Sie einem Juristen die Möglich¬
keit eingeräumt haben, auf dieser Tagung zu sprechen.
II.
Ausgangspunkt für eine juristische Auseinandersetzung mit den Problemen der und
um die Grenzgänger muß die Frage sein, was sich hinter dem Begriff des Grenzgän¬
gers verbirgt. Grenze, so sagt ein verbreitetes juristisches Wörterbuch, ist allgemein
die Trennungslinie zwischen zwei Bereichen. Im Völkerrecht ist die Grenze die
Trennungslinie zwischen zwei Staaten6.
1. Würde man die zuerst gegebene Definition zugrunde legen und Grenzgänger als
Personen betrachten, die die Trennungslinie zwischen zwei Bereichen überschreiten,
würde sich für diesen Vortrag ein ungemein weites Feld eröffnen. Bei Anwendung
dieses Grenzbegriffs könnte - überspitzt formuliert - als Gegenstand der Rechtswis¬
senschaft der Grenzgang oder der Grenzgänger bezeichnet werden. Die Trennungsli¬
nie interessiert den Juristen ungemein. Ist das Urteil eines Gerichts gerecht oder un¬
gerecht? Entspricht ein Vertrag den guten Sitten, oder ist die Trennungslinie zur Sit¬
tenwidrigkeit überschritten? Ist das Fehlverhalten des Arbeitnehmers so schwerwie¬
gend, daß es die Kündigung rechtfertigt oder nicht? Hat eine Person mit ihrem Ver¬
halten die Grenze des Erlaubten überschritten und sich strafbar gemacht oder nicht?
Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen.
Würde man den Begriff Grenzgänger in dieser Weite verstehen, wäre er wenig aussa¬
gekräftig, weil unter ihm eine Fülle völlig unterschiedlicher Phänomene verstanden
werden könnten. Nun wird aber dieser Begriff im juristischen Sprachgebrauch nicht
in dieser Weite gebraucht. Vielmehr sind Grenzgänger Arbeitnehmer und Selbstän¬
dige, die ihren privaten Mittelpunkt in einem Staat haben und die ihre Berufstätigkeit
über die Grenze in einem anderen Staat ausüben und täglich oder mindestens einmal
wöchentlich zu ihrem privaten Lebensmittelpunkt zurückkehren.7
2. In den 15 Staaten der Europäischen Union gibt es 250.000 Grenzgänger8. In der
von Lothringen, Luxemburg, dem Saarland und Rheinland-Pfalz gebildeten Region
4 A.a.O., S. 24.
5 A.a.O., S. 25.
6 Köbler, Juristisches Wörterbuch, 7. Aufl. 1995, S. 171.
7 Vgl. etwa Art. 1 Buchstabe b der Verordnung (EWG) des Rates über die Anwendung des
Systems der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familien¬
angehörige, die innerhalb der Gemeinschaften zu- und abwandem (Nr. 1408/71).
8 Saarbrücker Zeitung v. 17.9.1996, S. 5 „Mit Steuern gegen Grenzgänger“.
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