Reinhard Schneider
Schlussbetrachtung und Ausblick
Am Ende der Tagung im Mai 1997 hatte mancher den Eindruck, als werde der Grenz¬
gängerbegriff mitunter diffus gebraucht, als gäbe es auch allzu viele Teilaspekte. Die
Lektüre der Beiträge, die in diesem Bande enthalten sind, könnte eine ähnliche Beur¬
teilung hervorrufen, so daß es angebracht scheint, die Komplexität des Themas noch
einmal anzusprechen. Denn der vermutete Eindruck ist ja keineswegs nur auf eine
gewiß nicht befriedigende Forschungslage zurückzuführen, auch handelt es sich
nicht nur um die Konsequenz eines sehr weit gefaßten Tagungsprogramms.
Ausgehen könnte man von der modernen lexikalischen Beschreibung, die Grenzgän¬
ger versteht im Sinne von “Arbeitnehmern, die ihren Wohnsitz im Grenzgebiet (10-
km-Zone) eines Landes haben und regelmäßig in das eines anderen Landes zur Ar¬
beit fahren”. Ganz aktuell wäre allerdings zu fragen, ob die angenommene 10-km-
Zone beiderseits der Staatsgrenze noch ein brauchbares Kriterium ist, der Rahmen
nicht enger oder (wohl eher) weiter definiert werden muß. Damit wird angespielt auf
Veränderungen in der räumlichen Mobilität, die sich zunächst durch das Aufkommen
des Eisenbahnwesens, dann durch die rasante Entwicklung des Individualverkehrs
ergeben haben. Ob im Zeitalter des TGV und des ICE dieser Prozeß sich in bezug auf
Arbeitnehmer weiterhin beschleunigen wird, bleibt offen, weil die Beförderungsko¬
sten doch recht erheblich sind. Auch im Individualverkehr zeigen sich verzögernde
Momente, wie es beispielsweise für Luxemburg mit den dortigen völlig unzureichen¬
den Parkmöglichkeiten anschaulich verdeutlicht wurde (Carole Schmit).
Ohne eine solche Präzisierung des Betrachtungsraumes nach Kilometern formulierte
der Arbeitsrechtler: Grenzgänger sind “Arbeitnehmer und Selbständige, die ihren
privaten Mittelpunkt in einem Staat haben und die ihre Berufstätigkeit über die Gren¬
ze in einem anderen Staat ausüben und täglich oder mindestens einmal wöchentlich
zu ihrem privaten Lebensmittelpunkt zurückkehren” (Stephan Weth).
Interessant an dieser Definition sind die zusätzlich zu den sonst üblichen “Arbeitneh¬
mern” genannten “Selbständigen”, die im Beitrag von Bernhard Mohr tatsächlich be¬
gegnen. Die von ihm vorgestellten Schweizer “Landwirte als Grenzgänger” sind of¬
fenkundig selbständige Bauern, die jenseits ihrer Heimats- und Staatsgrenze zusätzli¬
che Felder bewirtschaften. Doch trotz dieser zweifellos interessanten Typvariante
dominiert der Arbeitnehmer als Grenzgänger. Zu diesem Typus gehören dann sicher
auch Wanderarbeitnehmer, die ggf. nur saisonal an ihren Heimatort bzw. Familien¬
wohnsitz zurückkehren - und am ehesten in der Kontinuität viel älterer Grenzgänger¬
formen stehen, welche über das 19. Jahrhundert zeitlich bis in die frühe Neuzeit und
gar in Phasen der mittelalterlichen Geschichte zurückverfolgt werden können.
Eine eher metaphorische Begriffsbildung zielt vor allem auf einzelne Künstler, Ge¬
lehrte und Unternehmer, für die eine Existenz beiderseits der Staats- und Nationali¬
tätsgrenze, ein ständiges physisches wie auch geistiges und mentales Hinüber- und
Herüberwechseln über die Grenze charakteristisch ist. Zu dieser Art gehörten in frü¬
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