Full text: "Grenzgänger" (33)

Mädchenzeit, in der auch sie in die Glasfabriken nach Weißwasser fahren, erscheinen 
demgegenüber als Übergangserfahrungen in Zwischenwelten vor Übernahme der ei¬ 
gentlichen Frauenpflichten in der geschützten Innenwelt des Dorfes. Dort stellen sor¬ 
bische Tracht und Sprache selbstverständliche Bestandteile des normalen Alltags 
dar. Aus diesem Rückhalt erwächst die Kraft, den üblen Nachrufen „wendsche Han- 
ka, wendsche Hanka“ in der Gegenwelt Weißwasser das Eigene als Gleichwertiges 
entgegenzusetzen: „Wenn du nicht Deutsch kannst, mußt du bellen wie ein Hund, 
und wenn ich nicht Deutsch kann, kann ich immer noch Sorbisch!“ formuliert eine 
1924 geborene Mühlroserin ihren Widerstand. 
Für die Männer allerdings wird diese Außenwelt zur eigentlich maßgebenden Welt: 
„Mit dem Sorbischen kamen wir ja nicht in der Welt mm“ lautet die Erklärung, mit 
der ein Vater die deutsche Sprache - entgegen den Interessen der Schwiegereltern, in 
deren Wirtschaft er eingeheiratet ist - als Familiensprache insbesondere gegenüber 
den Kindern durchsetzen will. Die Männer entwickeln, wie es jüngst der Soziolingu- 
ist Peter Neide in seiner Großstudie über Minderheitensprachgemeinschaften in Eu¬ 
ropa festgestellt hat, eine für europäische Sprachminderheiten typische „negative 
Identität“15, die durch die Identifizierung der eigenen Minderheitensprache mit einer 
traditionellen, als ‘veraltet’ geltenden Welt im Gegensatz zur zukunftsweisenden und 
positiv belegten Moderne und Nation gekennzeichnet ist. „Der (Schuldirektor) soll 
mir mal einen sagen, der durch das Sorbische etwas Gutes gemacht hat!“ lautet der 
Wertlosigkeitskommentar eines 1926 geborenen sorbischen Muttersprachlers hin¬ 
sichtlich des sorbischen Sprachunterrichts heute. Die männlichen Grenzgänger 
habe das nicht gekonnt, dann hat er sogar mehrmals mein Trachtenhäubchen vom Kopf ge¬ 
rissen. Und das war so beleidigend, das werde ich nicht vergessen, das war schlimm.“ (Ka¬ 
rin Bott-Bodenhausen, Sprachverfolgung in der NS-Zeit. Sorbische Zeitzeugen berichten 
(Lötopis Gesamtband 44, Sonderheft), Bautzen 1997, S.32). Jenseits der spezifischen natio¬ 
nalsozialistischen Antisorben-Politik, mit dem die demütigende Handlung der Autoritäts¬ 
person hier sowohl vom Erzählenden als auch der Interpretin in Zusammenhang gebracht 
wird, läßt sich das Phänomen des Hauben-Herunterreißens auch für die Zeit davor, d.h. in¬ 
nerhalb der nationalstaatlichen Germanisierungspolitik des Kaiserreiches, nachweisen. So 
berichtet Albrecht Lange in seiner Studie zum Wandel des Trachtenverhaltens in der Mus¬ 
kauer Heide von einem ähnlich gelagerten Vorfall in einem Ort, dessen letzte Trachtenträ¬ 
gerinnen 1909 konfirmiert wurden: „Es ist z.B. noch bekannt, daß chauvinistische Lehrer 
den Schulmädchen das Haubentragen verboten (z.B. in Sagar) und daß sie ihnen dieselben 
sogar vom Kopf rissen.“ (Albrecht Lange (wie Anm. 13) S. 12). Auch wenn die Rede vom 
‘Herunterreißen’ der zeitbedingten Normalität von körperlichen Züchtigungen in der Schu¬ 
le geschuldet sein mag, so ist doch die Kontinuität der Auseindersetzung um die 
Kopfbedeckung als Symbol des anderen bis in unsere Zeit auffallend. Die symbolische 
Verhandlung von Akzeptanz oder Negation des anderen, von Anerkennung der Differenz 
oder Verpflichtung auf Anpassung bzw. scheinbare Universalität hat zuletzt in Gestalt der 
‘Kopftuch-Affaire’ in Frankreich die Öffentlichkeit beschäftigt (vgl. Werner Schiffauer, 
Die civil society und der Fremde. Grenzmarkierungen in vier politischen Kulturen, in: Wer¬ 
ner Schiffauer, Fremde in der Stadt. Zehn Essays über Kultur und Differenz, Frankfurt am 
Main 1997, S. 38f.). 
15 Peter H. Neide et al., Euromosaic. Produktion und Reproduktion der Minderheiten-Sprach- 
gemeinschaften in der Europäischen Union (Europakommission D6 XXII), Brüssel 1996, 
S. 26. 
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