Reinhard Schneider
Sprachenpolitik im Mittelalter
Das Thema „Sprachenpolitik im Mittelalter“ läßt sich aus mediävistischer For¬
schungstradition nur mit etwas Mühe rechtfertigen. Zwar achtet auch die Ge¬
schichtsforschung für das Mittelalter auf sprachliche Zusammenhänge und so¬
genannte Sprachenfragen, doch geschieht dies im allgemeinen eher am Rande
und nicht unter besonderem politischen Aspekt. Selbst das große Werk von
Amo Borst über den „Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ur¬
sprung und Vielfalt der Sprachen und Völker“ (Stuttgart 1957-63) verwendet
den Begriff Sprachenpolitik wohl nur einmal,1 und Michael Richters Aufsatz
von 1982 über „Die Sprachenpolitik Karls des Großen“ kann als krasse Aus¬
nahme gewertet werden - vielleicht erschien der Aufsatz auch deshalb in der
germanistischen Fachzeitschrift „Sprachwissenschaft“.2
Wenn der Begriff im eigentlichen Sinne weithin zu fehlen scheint und die spe¬
zielle Aufmerksamkeit sehr begrenzt und nur selten anzutreffen ist, so dürfte
doch das Phänomen als solches vorhanden sein.
Ein zeitlicher Rückgriff auf ein Werk aus dem frühen 5. Jahrhundert, das im
Mittelalter eminent beachtet wurde, mag den angeschnittenen Sachverhalt ver¬
deutlichen. In seinem „Gottesstaat“ behandelt Augustin „den dritten Kreis der
menschlichen Gesellschaft“, der die Gemeinwesen bzw. Städte überwölbt: „Es
ist wie bei einer Ansammlung von Wassern; mit der Größe wachsen die Gefah¬
ren. Vor allem entfremdet die sprachliche Verschiedenheit die Menschen un¬
tereinander. Wenn zwei sich begegnen und nicht an einander vorübergehen,
sondern durch irgend einen zwingenden Grund auf einander gewiesen werden
und dabei einer die Sprache des anderen nicht versteht, so geschieht es, daß
stumme Tiere, selbst verschiedener Gattung, sich leichter zu einander gesellen
als jene, wiewohl sie beide Menschen sind. Da sie infolge der Verschiedenheit
der Sprache ihre Gedanken nicht austauschen können, nützt ihnen nämlich zur
gesellschaftlichen Annäherung die Ähnlichkeit der natürlichen Beschaffenheit
nicht. So erklärt es sich, daß ein Mensch lieber mit seinem Hund als mit einem
fremden Menschen verkehrt. Und es hat das gebieterische Rom darauf Mühe
Borst, Amo: Der Turmbau von Babel. Geschichte der Meinungen über Ursprung und
Vielfalt der Sprachen und Völker, Band II: Ausbau, Teil 2, Stuttgart 1995, S. 681.
Richter, Michael: „Die Sprachenpolitik Karls des Großen“, in: Sprachwissenschaft 7
(1982), S. 412-437.
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