Full text: Sprachenpolitik in Grenzregionen

ßerdem Tomuschat 1983, 949 ff., sowie Ermacora 1983, 308 ff., 321 ff., und 
Capotorti 1991, 603 ff.). Die Bestimmung lautet: „In Staaten mit ethnischen, 
religiösen oder sprachlichen Minderheiten darf Angehörigen solcher Minderhei¬ 
ten nicht das Recht vorenthalten werden, gemeinsam mit anderen Angehörigen 
ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu 
bekennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen.“ 
Selbst über den Bereich des rein privaten bzw. gesellschaftlichen Sprachge¬ 
brauchs hinaus verlangen die völkerrechtlichen Menschenrechtsgarantien zu¬ 
mindest für einen Kembereich auch die Achtung der Minderheitensprachen im 
amtlichen Verkehr. Nach Art.6 Abs.3 (e) EMRK hat der Angeklagte im Straf¬ 
verfahren das Recht, dem Verfahren in einer ihm geläufigen Sprache zu folgen, 
notfalls über Stellung eines Dolmetschers. Logischerweise müßte dies eigentlich 
auch für Angehörige ethnischer Minderheiten gelten (siehe Oellers-Frahm 
1994, 404). Die Staaten machen insoweit jedoch in der Regel geltend, da Min¬ 
derheitsangehörige üblicherweise die Sprache der Mehrheit, sprich: die natio¬ 
nale Amtssprache, verstünden (sie empfangen ja Schulunterricht in dieser Spra¬ 
che), bedürften sie der Übersetzung gar nicht. Der Einwand ist nicht abwegig. 
Kleine Minderheiten, und vor allem unterdrückte Minderheiten in auf Assimila¬ 
tion bedachten Einheitsstaaten, leben regelmäßig in einer Situation der 
,Diglossie4. Muttersprache im privaten Familien- und Hausgebrauch, oft auch 
noch im dörflichen Lebensumfeld, und Sprache der formellen öffentlichen 
Kommunikation fallen auseinander. Die dadurch entstehende linguistische 
»Persönlichkeitsspaltung4 geht üblicherweise einher mit einer kulturellen Ab¬ 
wertung der Minderheitensprache. Das ursprüngliche Idiom der familiären 
Sphäre wird von den Angehörigen der Minderheit selbst als minderwertige 
»Küchensprache4 empfunden; gegenüber Fremden, und erst recht gegenüber 
Behörden, wird automatisch die Mehrheitsspräche (^Amtssprache) benutzt. Das 
offizielle Bild der allseitigen Beherrschung der nationalen Amtssprache findet 
so eine logische Erklärung. Allerdings bedarf diese Annahme einer allgemeinen 
Beherrschung der nationalen Amtssprache gewisser Einschränkungen: Selbst in 
den rigiden nationalen Einheitsstaaten Westeuropas ist erwiesenermaßen das 
Phänomen der Einsprachigkeit nationaler Minderheiten noch nicht völlig ver¬ 
schwunden, vor allem in der älteren Generation. Aktuelle sprachsoziologische 
Untersuchungen in den albanischen Dörfern Nordkalabriens z.B. zeigen, daß 
dort selbst heute noch, vor allem unter alten Frauen, monolinguale Personen 
anzutreffen sind, die sich im Verkehr mit Behörden einschlägiger »Dolmet¬ 
scherdienste4 aus dem Familienkreis bedienen müssen (Birken-Silverman 1993, 
176). Zumindest für diesen Personenkreis wird man Art.6 Abs.3 (e) EMRK für 
anwendbar halten müssen. Diese Bestimmung gilt allerdings, wie erwähnt, nur 
für Strafverfahren. 
Die meisten Staaten gehen jedoch, mit gutem Grund, so möchte man meinen, in 
ihrer Rechtsordnung und Verwaltungspraxis weit über diesen Mindeststandard 
der Achtung der Privatsphäre hinaus (Oellers-Frahm 1994, 391 ff.). Amtsspra¬ 
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