Full text: Sprachenpolitik in Grenzregionen

Handelskammern und in der Kurie des Großgrundbesitzes sollte nach dem 
Prinzip der Verhältniswahl, ohne Unterschied der Nationalität gewählt werden. 
Mit Ausnahme der beiden zuletzt genannten Wahlkörper - Handelskammern 
und Großgrundbesitz - erfolgte also eine nationale Durchgliederung der ge¬ 
samten Wählerschaft, die formal nichts mit den politischen Parteien zu tun 
hatte. Etwas grundsätzlich Neues war also in der Landtagswahlordnung der 
„Nationalkataster“, hier kamen in modifizierter Form Vorschläge zur Ausfüh¬ 
rung, die Karl Renner entwickelt hatte. Grundprinzip des Nationalkatasters war 
der Gedanke der „Personalautonomie“, d. h. der Trennung der Nationalitäten 
bei allen Wahlen und bei den aus Wahlen hervorgehenden Selbstverwaltungs¬ 
körperschaften, wodurch jede formaldemokratische Majorisierung nationaler 
Minderheiten durch die Mehrheit in den Verwaltungsgremien ausgeschaltet 
werden sollte (vgl. Konfessionen!). Mit Hilfe der im Nationalkataster verwirk¬ 
lichten Personalautonomie konnte besonders in nationalen Mischgebieten das 
illusorisch gewordene Prinzip der ethnisch-territorialen Grenzziehung über¬ 
wunden und dennoch jedem einzelnen die nationale und politische Freiheit ge¬ 
währleistet werden, wie die praktische Anwendung in Mähren zeigte. 
Damals betrug das Zahlenverhältnis zwischen Tschechen und Deutschen in 
Böhmen 63 zu 37 Prozent, in Mähren 70 zu 30 Prozent. Wenn es dennoch in 
Mähren eine deutsche Landtagsmehrheit gab, dann lag dies vor allem daran, 
daß in den Landtagen noch das relativ rückständige Zensus- und Kurienwahl¬ 
recht bestand und bestimmte Teile der Bevölkerung nicht nach politischen Par¬ 
teien, sondern nach Berufsgruppen den Landtag beschickten: so der Gro߬ 
grundbesitz und die Handelskammern. 
Die Sprachenfrage stand nicht nur im „Mährischen Ausgleich“ im Mittelpunkt 
der Verhandlungen, ging es doch dabei um eine grundsätzliche Zusicherung an 
die Tschechen, die ihnen schon 1848 vom Kaiser und der damaligen Wiener 
Regierung Piliersdorf gemacht und 1867 im berühmten § 19 des liberalen 
Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger festgeschrie¬ 
ben worden ist, und zwar unter der allgemeinen Devise für den Vielvölkerstaat, 
daß es eine Gleichberechtigung aller Nationen Österreichs geben müsse. Der 
Kampf um die Realisierung dieses Paragraphen 19 wurde der vitale Kern des 
österreichischen Verfassungslebens bis 1918, aber auch dessen höchst reizbarer 
Lebensnerv. 
Diese generell zugesicherte Gleichberechtigung war leichter allgemein zugebil¬ 
ligt als in konkrete Gesetzesform gegossen und verwirklicht. Das lag zumeist 
nicht am Willen bzw. Unwillen von Regierung und Administration, denn ge¬ 
rade im Verwaltungsbereich wurden sehr oft schon Regelungen stillschweigend 
praktiziert, die erst nach und nach von der Rechtssprechung durch Verfahrens¬ 
vorschriften eingeholt und festgeschrieben wurden. 
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