Full text: Sprachenpolitik in Grenzregionen (29)

die Sache nicht folgenden Hintergrund gehabt hätte, der auf eine nationalisti¬ 
sche „Eroberungsstrategie“ hinauslief. Nach der k. u. k. Schulgesetzgebung war 
nämlich jede Gemeinde verpflichtet, für Kinder einer anderen als im Ort vor¬ 
herrschenden Nationalität Schulen einzurichten und auf Gemeindekosten zu 
unterhalten, sobald die Zahl der schulpflichtigen andersnationalen Kinder der 
ethnischen Minderheit 30 Personen überschritt. Diese an sich sinnvolle Bestim¬ 
mung zugunsten der Minoritäten diente aber den jeweiligen nationalen Vereinen 
und Kampforganisationen nur dazu, durch Schulvereine so lange eine eigene 
Minderheitenschule zu finanzieren, bis dieselbe durch intensives nationales 
Werben bei den Eltern oder durch politischen Druck auf dieselben mehr als 30 
Schulkinder hatte und deshalb von der Gemeinde übernommen und bezahlt 
werden mußte. Auf diese Weise wurde dann das Geld der tschechischen oder 
deutschen Schulvereine, das jetzt frei geworden war, für die Gründung neuer 
Privatzwergschulen in anderen Orten oder Stadtvierteln eingesetzt, dies natür¬ 
lich mit demselben Ziel, auch diese Schulen so weit zu bringen, daß sie Ge¬ 
meinde oder Staat übernehmen mußten. 
Also eine ausgesprochene Kampfstrategie der beiden Nationalismen, die das 
politische Klima vergifteten und das nationalistische Konfrontationsdenken be¬ 
reits auf die Kinder übertrug. Man kann getrost von einer Vergiftung des poli¬ 
tisch-sozialen Bewußtseins sprechen. Aufgrund dieser Kampfsituation um die 
Schulkinder erklärt sich auch das Einschreiten des - in diesem Fall tschechi¬ 
schen - Ortsschulrats gegen Johann Lehar. Das Wiener Verwaltungsgericht, 
eine national paritätisch besetzte Justizbehörde, entschied den Fall sehr ver¬ 
nünftig dahingehend, daß Lehar bei nächster Gelegenheit seine Nationalität 
wechseln und sich in den deutschen Nationalkataster umschreiben lassen solle, 
womit automatisch und aufgrund des Elternrechts der Eintritt seiner Tochter 
Anna in die deutsche Volksschule erfolgen könne. Eine neuerliche Beschwerde 
Johann Lehars wurde vom Gericht abgewiesen. 
Es war bereits kurz vom „Mährischen Ausgleich“ des Jahres 1905 und der 
damit verbundenen Einrichtung von „Nationalkatastern“ die Rede, einem Ge¬ 
setzeswerk, das einen Meilenstein in der Sprachenpolitik Österreich-Ungarns 
für die westliche - österreichische - Reichshälfte darstellte. In Mähren hatte 
sich die deutsche Landtagsmehrheit unter maßgeblicher Initiative Johann von 
Chlumeckys mit der tschechischen Minderheit über eine neue Landesordnung 
einschließlich einer Landtagswahlordnung sowie über den Gebrauch der beiden 
Landessprachen und über die Organisation der jeweils deutschen und tschechi¬ 
schen Schulbehörden geeinigt. Bei Beibehaltung des Kuriensystems, nachdem 
bisher ein restriktives Zensuswahlrecht gehandhabt worden ist, wurde jetzt eine 
allgemeine Wählerkategorie neu geschaffen. Die Wählerschaft wurde in zwei 
nationale Klassen geteilt, deren Mitglieder in getrennten Wählerlisten 
(Nationalkataster) eingetragen waren. Dabei wählten Tschechen und Deutsche 
in der Wählerkurie der Landgemeinden, der Städte sowie in der allgemeinen 
Wählerklasse gesondert in besonderen nationalen Wahlbezirken, nur in den 
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