Full text: Sprachenpolitik in Grenzregionen (29)

Die Sprachenpolitik in den Grenzgebieten der Slavia ist, wie erwähnt, nur ein 
Sonderfall der Sprachenpolitik in der Slavia allgemein. Beide sind eingebettet 
in die Geschichte der betroffenen Standardsprachen und der Bevölkerung, die 
sich ihrer bedient. Die Geschichte der Sprachenpolitik in der Slavia läßt sich in 
drei Abschnitte untergliedern: 
- Vorgeschichte und Emanzipation der slavischen Standardsprachen 
- etatistische Sprachenpolitik 
- nationale Sprachenpolitik. 
Der erste Abschnitt beginnt jeweils mit dem Einsetzen der schriftlichen Über¬ 
lieferung und endet mit dem Zerfall der alten politischen Ordnung Europas als 
Ergebnis des ersten Weltkriegs. Einzelne Entwicklungsschritte finden z.T. zu 
unterschiedlichen Zeiten statt (für das Russische und das Polnische z.B. vielfach 
früher als für das Weißrussische und das Slovakische), aber der Endpunkt ist 
überall der gleiche. Hinsichtlich der Entwicklung ist es sinnvoll, zwischen dem 
Verlauf in der Slavia orthodoxa und in der Slavia romana zu unterscheiden. 
Gemeinsam ist der Entwicklung in beiden Gebieten, daß sich die slavischen 
Standardsprachen gegen andere sprachliche Formen durchsetzen mußten, die in 
schriftlichem und ggf. auch mündlichem formalisiertem Gebrauch waren. Es 
hat also auch in der Slavia eine „questione della lingua” gegeben.14 
In der Slavia orthodoxa gestaltete sich die Emanzipation der Standardsprachen 
insofern schwieriger, als bereits eine Schriftsprache mit beträchtlichem Prestige 
vorhanden war: das Kirchenslavische. Das Kirchenslavische war eine Wei¬ 
terentwicklung der ersten slavischen Schriftsprache, des Altkirchenslavischen 
oder Altbulgarischen, die ursprünglich für die Bedürfnisse der Christianisierung 
der Slaven entwickelt worden war und sprachlich im wesentlichen eine südsla- 
vische Grundlage hatte. Diese ursprünglich recht einheitliche Schriftsprache 
wurde allmählich in einigen Punkten den sprachlichen Besonderheiten der je¬ 
weiligen Umgebung angepaßt, und so entstanden verschiedene Redaktionen des 
Kirchenslavischen (Russisch-Kirchenslavisch, Serbisch-Kirchenslavisch, Kroa- 
tisch-Kirchenslavisch usw.). Da das Kirchenslavische nicht oder zumindest 
nicht in gleichem Maße als fremd empfunden wurde wie andere Schriftspra¬ 
chen, wurde es öfters als mögliche Alternative zur Entwicklung einer eigen¬ 
ständigen Standardsprache gesehen (so etwa im serbischen, ukrainischen oder 
bulgarischen Gebiet), was eine Emanzipation erübrigt hätte. Und auch die 
Emanzipation, die schließlich überall stattfand, verlief wegen des Vorhanden¬ 
seins des Kirchenslavischen anders als in der Slavia romana: die Standardspra¬ 
chen der Slavia orthodoxa waren und sind alle in größerem oder geringerem 
Maße durch das Kirchenslavische geprägt. Wegen des Vorhandenseins des Kir- 
14 
Der Begriff wurde für den slavischen Bereich von Picchio fruchtbar gemacht, und zwar 
in bewußter Anlehnung an die westeuropäische, insbesondere romanische Entwicklung, 
vgl. Picchio 1972 und Picchio/Goldblatt 1984. 
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