Nation ist für die deutschen Diskussionspartner - nach einer berühmten Defini¬
tion von 1815 - „ein durch gleiche Abstammung und Sprache ausgezeichneter
Teil der Menschheit“.138 Wer die Antworten Ernest Renans und Fustel de
Coulanges liest,139 stellt fest, daß am Grunde des intellektuellen Mißverständ¬
nisses zwischen Deutschen und Franzosen ein verschiedener Nationsbegriff
liegt.140 Für die Franzosen ist nach revolutionärer Definition des Abbé Sieyès
die Nation „eine Gesamtheit von vereinigten Individuen, die unter einem ge¬
meinsamen Gesetz stehen“.141 142 Fustel de Coulanges formuliert gegenüber
Mommsen: „Ce n’est ni la race ni la langue qui fait la nationalité“.143 Sie wird
als freie Entscheidung von den Individuen verantwortet; für Renan wird sie
chanson de Roland et la nationalité française1. Léon Gautier, Professor für Paläographie
an der École des Chartes, schrieb in seiner Ausgabe der ,Chanson de Roland4, die von
1872 bis 1903 sechsundzwanzig Editionen erlebte, für seine „pauvre France“, um zu
zeigen, „combien déjà elle était grande il y a huit cent ans“ - im Gegensatz zu den
Vorfahren der Preußen: „Où étaient-ils, quand notre Chanson fut écrite, ou étaient-üs, nos
orgueilleux envahisseurs? Ils erraient en bandes sauvages sous l’ombre de forêts sans
nom: ils ne savaient... que piller et tuer. Quand nous tenions d’une main si ferme notre
grande épée lumineuse près de l’Église armée et défendue, qu’étaient-ils? Des Mohicans
ou des Peaux-Rouges.“ Wie aggressionsbereit im Zeichen des nationalen Konflikts auch
die Wissenschaft wurde, zeigt ein Briefzeugnis Hippolyte Taines (1828-1893), seit 1864
Professor der Kunstgeschichte an der Ecole des Beaux-Arts in Paris, von August 1870:
„L’animal germanique est, au fond, brutale, despotique, barbare, et l’animal allemand est
de plus économe et grappilleur. Tout cela vient d’apparaître à la lumière et me fait
horreur.“ Mit der Evokation der Bilder vom östlichen Barbaren, Despoten und zugleich
überlegenen, instinktsicheren Profiteur taucht auch dieser Wissenschaftler in den
Hauptstrom der nationalen Clichés ein. Vgl. Klein, Wolfgang: „Das Vermächtnis der
Geschichte, der Müll der Vergangenheit“, in: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft
und Linguistik, Jg. 25, H. 100 (1995), S. 96.
138 Vgl. zuletzt Böckenförde, Emst-Wolfgang: „Die Nation - Identität in Differenz“, Vortrag
vor der Siemens-Stiftung München (Bericht in F AZ 9, Mai 1995, Nr. 107, S. 39).
139 Renan (wie Anm. 50), S. 27f.; Fustel de Coulanges (Anm. 38), S. 95ff.
140 Vgl. auch zu dem schillernden und zwischen Deutschland und Frankreich hin- und her¬
gereichten, mit Jahns , Volkstum’ gleichgesetzten Begriff .Nationalität’ Noiriel, Gérard:
„Socio-Histoire d’un concept. Les usages du mot .nationalité’ au XIXe siècle”, in:
Genèses 20 (Paris 1995), S. 4-23. Dort der Hinweis auf das wichtige, im Kontext des
Ersten Weltkrieges entstandene Werk von Jehannet, René: Le principe des nationalités,
Paris 1918.
141 Böckenförde (wie Anm. 138), S. 39.
142 Fustel de Coulanges (Anm. 38), S. 95. An Mommsen und damit an Böckh gerichtet
antwortet - ganz im Sinne von Sorel (Anm. 40) - der Historiker: „Votre théorie des races
est contraire à tout l’état actuel de l’Europe. Si elle venait à prévaloir, le monde entier serait
à refaire.“
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