Full text: Sprachenpolitik in Grenzregionen (29)

Hier setzt aber ein zweites Argumentationsmuster der deutschen Polemik ein, 
das aus dem Nationalitätsprinzip einer weniger strengen Fassung, wie sie Böckh 
vertrat, entwickelt werden konnte: der Diskurs vom ,verdeckten Volkstum4, 
dessen entschiedenster Propagator Heinrich von Treitschke war, für den der 
„Geist eines Volks44 nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit 
umfaßte. Ein Jahrtausend deutscher Geschichte könne nicht durch zwei Jahr¬ 
hunderte französischer Herrschaft zerstört werden: „Wir berufen uns wider den 
mißleiteten Willen derer, die da leben, auf den Willen derer, die da waren“.!22 
Deshalb dürfen die Elsässer und deutschen Lothringer zum Eintritt in das Reich 
gezwungen werden. „Wir Deutschen, die wir Deutschland und Frankreich ken¬ 
nen, wissen besser, was den Elsässern frommt, als jene Unglücklichen selber, 
die in der Verbildung ihres französischen Lebens von dem neuen Deutschland 
ohne treue Kunde blieben44.122 123 Ein ungeheuerlicher Satz. Doch ist der Diskurs 
vom ,verdeckten Volkstum4 auch anderen Autoren nicht fremd.124 Alfred 
Dove sieht den Kern des deutschen „Volksthums“ im Elsaß unversehrt, weil es 
seine Sprache gegen eine übermächtige fremde Verwaltung bewahre.125 Für 
Adolph Wagner darf man „unsere alemannischen und fränkischen Landsleute 
im Elsaß und Lothringen, auch gegen ihren Willen oder wenigstens ohne sie zu 
fragen, unserem Staate einverleiben.“ Man gibt ihnen damit „das Recht auf die 
122 Treitschke (Anm. 57), S. 289. 
125 Ebd. Hieraus ergab sich auch die konsequente Ablehnung des Selbstbestimmungsrechtes 
der Bevölkerung, die in der französischen Publizistik eine bedeutende Rolle spielt. 
124 Deshalb spielt er auch im neutralen Ausland und in den Diskussionen nach 1871 noch 
eine große Rolle. Zwei Beispiele: In den .Daily News* vom 20. VIII. 1870 heißt es 
bereits: „Die Bevölkerung des Elsasses ist deutsch durch Abstammung, Sprache und 
Lebensweise ... Die Elsässer sind allerdings eifrige, wenn auch nur auswendige 
Franzosen, vielleicht aber mehr, um ihr innerstes Bewußtsein, daß sie ganz und gar keine 
Franzosen sind, zu verdecken als aus irgendeinem echten, tiefen Gefühl“ (zitiert nach 
Rocholl, Anm. 169, S. 10). Der Reichsgerichtsrat a.D. Petersen würzt dagegen einen vor¬ 
wiegend verfassungspolitischen Beitrag mit einer Generalinterpretation der latenten 
Volkstumskräfte in Geschichte, Brauchtum, Sprache und Literatur. Vgl. Petersen, Julius: 
Das Deutschtum in Elsaß-Lothringen, München 1902 (Der Kampf um das Deutschtum, 
H. 5). 
125 Dove, Alfred: „Ein Vorschlag zur Annexion der Geister in Elsaß und Lothringen“, in: Die 
Grenzboten. Zeitschrift für Politik und Literatur 29 (1870), II. Semester, Bd. 2, S. 186f. 
[der Artikel ist unsigniert]. Am 25. Mai 1871 erklärt der Fortschrittler Wigand im 
Reichstag, daß die Einverleibung der neuen Provinzen nur auf Grund des deutschen 
Volkstums der Bevölkerung gerechtfertigt sei: „Aber die Bevölkerung ist eine deutsche, 
ihr Kem ist ein deutscher, und wenn auch schon vor Jahrhunderten von uns gerissen, ist 
die Bevölkerung dennoch in ihrer Natur und ihrem Wesen, in ihren Sitten und ihren 
Gewohnheiten deutsch im allgemeinen grossen geblieben ...“. Vgl. Blesch, Josephine: 
Elsass-Lothringen und das Unrecht von 1871, Basel (Verlag Emst Finckh) 1918, S. 30f. 
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