freiungskriegen zu einem Kristallisationspunkt des nationalen Denkens werden,
konnten ein Problem der Irredenta, der „unerlösten“ Gebiete schaffen. In der
Tat gab es vor allem während der Neuverhandlungen nach der Rückkehr Napo¬
leons von Elba Forderungen verschiedener deutscher Staaten auf ,Rückgabe'
des Elsaß, die jedoch nicht durchgesetzt werden konnten. Poeten der Befrei¬
ungskriege wie Emst Moritz Amdt und Max von Schenkendorf nahmen diese
Forderungen auf: „Doch dort an den Vogesen / liegt ein verlornes Gut / Da gilt
es deutsches Blut / vom HÖllenjoch zu lösen“.3 Irredenta. Allerdings verstumm¬
ten diese Töne bald wieder, wurden latent im historischen Bildungsbewußtsein
der Deutschen.
Umgekehrt gab es auch in Frankreich eine gewisse Unzufriedenheit mit den Er¬
gebnissen von 1815. Die 1801 erreichte Rheingrenze an Mittel- und Nieder¬
rhein war vor allem bei der classe politique unvergessen, stand als eine für die
Sicherheit Frankreichs unumgängliche Forderung in Militärhandbüchern, ge¬
wann mit der Rückbesinnung auf die von Caesar beschriebenen Ostgrenzen der
Gallia eine patriotisch-historische Gloriole, derer sich in der memoria an die
gallischen und römischen Vorfahren gerade Napoleon III., seit 1848 Präsident
der Republik, seit 1852 empereur, bediente: er ließ Caesars ,Bellum Gallicum*
kommentieren, finanzierte Ausgrabungen, errichtete im burgundischen Alesia,
heute Alise-Ste-Reine, der letzten Verteidigungsposition der Gallier gegen Cae¬
sar, dem Nationalheros Vercingetorix ein überdimensionales Denkmal. Die
Rheingrenze, in unterschiedlicher Ausformung, als ,petit Rhin‘ oder ,grand
Rhin‘ konnte in der Publizistik Frankreichs stets aktualisiert werden.4
Dieses „beim Anblick des Elsasses vom Badener Schlosse“ getextete poetische Pamphlet
Max von Schenkendorfs wird von vielen Autoren im Umkreis des Deutsch-Franzö¬
sischen Krieges zitiert, vielleicht zuerst von BÖckh, Richard: Der Deutschen Volkszahl
und Sprachgebiet in den europäischen Staaten. Eine statistische Untersuchung, Berlin
(Verlag J. Guttentag) 1869, S. 161.
Symptomatisch für das second empire ist das einflußreiche Buch des Militärhistorikers
Lavallée, Théophile: Les Frontières de la France, Paris 1864, nach Johannes Haller
(Anm. 1, S. 122f.) „in ganzen Kapiteln ... ein förmlicher Hymnus auf die Rheingrenze“
(fünf Auflagen in zwei Jahren). Er fordert die Rheingrenze von der Schweiz bis zu den
Niederlanden. Zülpich, Ort des Sieges Chlodwigs über die Alemannen, und Aachen, wo
das Grab von Karl dem Großen bzw. Charlemagne steht, gehören nach Natur und
Geschichte zu Frankreich. Revisionistisch gegenüber den Ergebnissen des Wiener Kon¬
gresses ist auch die Broschüre des Elsässers Muller, Charles: Nos frontières du Rhin,
Paris 1868. Er empfiehlt den Krieg um die terre sainte de nos ancêtres. Vgl. ferner
Babeion, Emest: Le Rhin dans l’histoire, 2 Bde., Paris 1916—17; Engerand, Fernand:
U Allemagne et le fer. Les frontières lorraines et la force allemande, Paris 1916; Kühn,
Joachim (Hrsg.): Der Nationalismus im Leben der Dritten Republik, Berlin 1920;
Oncken, Hermann: Die Rheinpolitik Kaiser Napoleons III. von 1863-1870 und der Ur¬
sprung des Krieges von 1870171, 3 Bde., Stuttgart/Berlin/Leipzig 1926, bes. S. 508ff.
526ff„ Raumer, Kurt, v.: Der Rhein im deutschen Schicksal. Reden und Aufsätze zur
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