Das Verhältnis der einzelnen Sprachgruppen zueinander war - ungeachtet der
jeweiligen sprachlichen Dominanzkonstellationen - die Jahrhunderte hindurch
ein friedlich-koexistierendes, ein Zustand, der erst durch die nationalstaatlichen
Sprachregelungsversuche des 19. Jahrhunderts (Dänische Sprachreskripte) un¬
vermittelt zum Sprachenkonflikt führte. Das von dänischer Seite durchgesetzte
Nationalitätenprinzip widersprach jedoch der althergebrachten ,nationalen In¬
differenz4 der Regionalsprachen im Gesamtstaat; es scheiterte vor allem auch
deswegen, weil es den gewachsenen Mehrsprachigkeitsverhältnissen nicht Rech¬
nung trug. Ebenso erfolglos blieb das 1876 von Preußen erlassene Geschäfts¬
sprachengesetz,28 das seinerseits in Nordschleswig einen Eindeutschungsprozeß
einzuleiten suchte. Nicht ohne Grund griff dasselbe Gesetz freilich in anderen
Regionen, so etwa im deutsch-niederländischen Grenzraum, dort bezeichnen¬
derweise aber gegenüber einer Kultursprache, die soziologisch auf vergleichs¬
weise unsicherem Boden steht und zudem geringere emotive Bindungen weckt.
Diese Vorgänge demonstrieren, daß der natürlich verlaufende Prozeß des
Sprach Wechsels (über Mehrsprachigkeit) durch staatliche Sprachregelungen, die
als Eingriffe von außen und oben aufgefaßt wurden, nicht rückgängig zu ma¬
chen war, sondern nur auf dem Wege der Freiwilligkeit möglich ist. Die genuin
landfremden Hochsprachen setzten sich mit der Zeit jedoch deswegen durch,
weil sich mit ihnen - im Gegensatz zu den Volkssprachen - auch weitere Funk¬
tionen und Wertungen verbanden. Ihre zunehmende Einwirkung auf die Sub¬
standardvarietäten im jeweiligen Geltungsbereich schafft inzwischen eine
Sprachgrenze (als Kommunikationsbarriere) im Verlauf der Nationalstaats¬
grenze, die das ursprünglich vorhandene Sprachkontinuum durchbricht.
Die Minderheiten, Volks- und Sprachgruppen des Grenzraumes haben die Last
der Geschichte getragen und sind den steinigen Weg vom Nebeneinander über
das Gegeneinander zum Miteinander gegangen. In ihrem Verhältnis zum unge¬
liebten Nationalstaat haben sie Konfliktlösungen gefunden, die zukunftsorien¬
tiert vorbildlich sind. Dazu gehört vor allem die Einführung des individuellen
Bekenntnisprinzips, das durch die Kieler Erklärung von 1949 und den Bonn/
Kopenhagen-,Vertrag4 aus dem Jahre 1955 zugestanden wurde. Es ermöglicht
eine Gewaltenteilung (zufolge des Einzelwillens) zwischen ethnokulturellem
Bewußtsein, (national-)staatlichem Zugehörigkeitsanspruch und Sprachenwahl.
Seitdem gilt der Satz: ,Ich bin ein Däne und spreche Deutsch(!)‘, wodurch die
Sprachgemeinschaft als ausschließliches Zuweisungskriterium der Staatsange¬
hörigkeit aufgehoben ist. Relativiert wird damit erst recht die verabsolutierte
Vorstellung vom Nationalstaat: Dieser muß nicht alle Bindungsgefühle seiner
Bürger für sich in Anspruch nehmen, zumindest nicht in den multiethnischen
Grenzregionen. Entstanden ist eine Kultur des Wählens im freien Kräftespiel,
nicht eine der Beliebigkeit, sondern unter Einhaltung von Usancen, was in ei¬
28
Siehe dazu Papst: „Geschäftssprachengesetz“ (1980) und Petersen: Preußens Sprach¬
politik (1995).
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