Lëtzebuergesche kam aber kaum über die Sphäre der gesprochenen Alltagsspra¬
che hinaus; als Schrift- und Öffentlichkeitssprachen fungierten das Französische
und das Deutsche, dem Wortlaut des Gesetzes nach gleichberechtigt auf dersel¬
ben Stufe stehend; in der Praxis war aber das Französische die Sprache mit dem
höheren Prestige, verwendet vom städtischen Bildungsbürgertum, und zwar vor
allem in überregionalen und internationalen Zusammenhängen, während das
Deutsche weniger geschätzt wurde, aber dafür allen Kreisen der Bevölkerung
weit zugänglicher war als das mühsam zu erlernende Französische, dessen
Grundzüge freilich jeder kannte, weil schon seit 1843 Französischunterricht
auch in der Primarschule Pflichtfach war.
Der deutsche Überfall auf Luxemburg vom 10. Mai 1940 bedeutete auch das
Ende dieser Sprachenverteilung. Luxemburg wurde dem Gau Koblenz-Trier
zugeschlagen, und der Gauleiter Gustav Simon verbot am 6. August 1940
sowohl den schriftlichen als auch den mündlichen Gebrauch des Französischen,
was sich sogar auf übliche Formeln wie merci, bonjour, Madame usw. beziehen
sollte. Unter diesen Umständen wurde die Verwendung des Lëtzebuergeschen,
die man nicht gut verbieten konnte, zum eigentlichen Symbol des Widerstandes
und natürlich unter den Zwangsrekrutierten zum gegenseitigen Erkennungszei¬
chen. Die Großherzogin Charlotte hielt von ihrem Londoner Exil aus über BBC
Ansprachen auf Lëtzebuergesch, und die Résistance artikulierte sich mündlich
wie schriftlich ganz selbstverständlich auf Lëtzebuergesch - Vorgänge, die vor
dem Kriege kaum denkbar gewesen wären. In der nationalen Hochstimmung
nach der Befreiung war das Prestige des Lëtzebuergeschen ebenso auf dem
Zenith angelangt, wie die Wertschätzung des Deutschen ihren absoluten Tief¬
punkt erreicht hatte: Man schuf eine völlig vom Deutschen unabhängige schrift¬
sprachliche Form des Lëtzebuergeschen mit einer phonologischen Orthographie
ohne Berücksichtigung deutscher Schreibtraditionen (Kramer 1984, 185), eine
Tageszeitung (ZT Unio’n) erschien in dieser Sprachform, man bemühte sich,
das Deutsche völlig aus der Öffentlichkeit zu verdrängen, indem man es durch
das Französische oder Lëtzebuergesche ersetzte. Auf längere Sicht konnte der¬
artigen Anstrengungen kein Erfolg beschieden sein: Die neue Norm wurde als
sehr kompliziert empfunden, und kaum jemand hatte Lust, einen beträchtlichen
Lemaufwand auf eine Sprachform zu verwenden, von der man im Grunde
wußte, daß sie zu einer linguistischen Ghettoisierung führen mußte, die sich
eine dreihunderttausend-Seelen-Nation im Herzen Europas nicht leisten konnte
und wollte. Auch das Französische war keine wirkliche Lösung: Eine relativ
problemlose, für alle Alltagssituationen ausreichende Beherrschung dieser
schwierigen Sprache durch alle Kreise der Bevölkerung war natürlich illuso¬
risch, so daß eine allzu starke Forcierung der Rolle des Französischen einen
Keil zwischen gebildete und weniger gebildete Luxemburger getrieben hätte,
was niemand wollen konnte. Es blieb nichts anderes übrig, als dem Deutschen
zumindest einen Teil seiner früheren Funktionen nolens vole ns wiederzugeben.
Nach dem Abklingen der heftigsten antideutschen Emotionen bildete sich etwa
seit 1950 die Sprachsituation heraus, wie sie bis heute herrscht:
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