eine Skizze der heutigen Situation zu geben; gleich zu Anfang möchte ich die
Aufmerksamkeit darauf lenken, daß die Verwendungssphären der verschie¬
denen Sprachen in der Realität offenbar weniger durch gesetzliche Regelungen
bestimmt werden als vielmehr durch ein kompliziertes Geflecht von Nützlich¬
keitsüberlegungen, von Traditionen und vor allem von durch historische Erfah¬
rungen bestimmten kollektiven Sympathien oder Antipathien gegenüber den
Großsprachen bzw., genauer gesagt, gegen die Staaten, in denen diese Gro߬
sprachen heimisch sind.
Ich komme zunächst zu zwei Fällen, bei denen die Neuschöpfung einer eigenen
Regionalschriftsprache B2 auf längere Sicht die mehr oder weniger vollständige
Verdrängung der verwandten und bis dahin geläufigen überregionalen Traditi¬
onsschriftsprache Bi zur Folge hatte, wobei die Stellung der fremden Prestige-
sprachform A im großen und ganzen unverändert blieb.
Das erste Beispiel ist die Sprachsituation Korsikas. Die Römer besetzten die In¬
sel bereits 237 v. Chr. im Laufe des Ersten Punischen Krieges, und trotz lan¬
gem Widerstand durch die einheimische Bevölkerung ist von einer vollständi¬
gen Romanisierung spätestens in der Kaiserzeit auszugehen; ihrem Typ nach
muß die Romanität Korsikas der Sardiniens und darüberhinaus der Süditaliens
nahegestanden haben. Abgesehen von einigen Relikten lebt jedoch nicht diese
Sprachform auf der Insel fort, sondern wir haben es mit einer Art von
„Kolonialtoskanisch” zu tun: Korsika war von Papst Gregor VII. im Jahre 1077
der Republik Pisa zum Lehen gegeben worden, und das Toskanische Pisaner
Typs setzte sich auf der ganzen Insel durch; daran änderte auch die Herrschaft
der Genuesen, die nominell von 1284 bis 1768 dauerte, wenig, wenn man ein¬
mal von allerlei Wortentlehnungen und natürlich von der Präsenz der genuesi¬
schen Sprachinsel Bonifacio absieht. In unserem Zusammenhang ist wichtig,
daß der toskanische Charakter des Korsischen dieses näher an die Schriftsprache
stellt, als man das von irgendeinem anderen Dialekte Italiens außerhalb der
Toskana sagen könnte - Venezianisch, Lombardisch, Piemontesisch, Sizilia-
nisch und selbst Römisch unterscheiden sich viel mehr von der lingua nazionale
als das Korsische. Im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit verhält sich
Korsika kaum anders als andere italienische Sprachlandschaften: Der mit Dante,
Petrarca und Boccaccio zu verbindende Typ des Italienischen auf toskanischer
Basis war die unumstrittene Schriftsprache, aber diese spielte im Alltag eine
ziemlich nebensächliche Rolle und wurde nur von einer kleinen Elite wirklich
beherrscht. Das nächste einschneidende Datum für Korsika ist 1768: Im Vertrag
von Versailles trat Genua die Insel an Frankreich ab, und in der Schlacht von
Ponte Novo vom 8. Mai 1769 gelang es französischen Truppen, jeden auf Un¬
abhängigkeit zielenden Widerstand zu brechen. Die Zugehörigkeit zu
Frankreich bedeutete zugleich, daß das Französische die Rolle der Staatssprache
einnahm, zunächst freilich, ohne dadurch die Funktion des Italienischen und
der korsischen Dialekte einzuengen. Im Laufe des 19. Jh. wurde das vor allem
durch die Modemisierungsmaßnahmen von Napoleon III. und durch die Ein¬
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