Wolfgang Trautwein indes hält diesen Essay in einem knappen Aufsatz mit dem
Titel "Die Grenze als literarische Kategorie- eine Anmerkung zum Werk Uwe
Johnsons" für das Wichtigste, was über die literarische Darstellbarkeit der geteil¬
ten Stadt geschrieben wurde. Mit Recht. Trautwein assoziiert mit dem BegrifF der
"Grenze als literarische Kategorie" die strukturalistische Erzähltheorie Jurij M.
Lotmans, der dieses Stichwort in ganz anderem Zusammenhang allgemeiner ab¬
handelt. Lotman wird dann aber doch wichtig für die eigentlichen Schlußfolgerun¬
gen. Lotmans Grundgegebenheit für das Erzählen ist das Sujet. Er definiert dieses
Sujet als Grenzüberschreitung. Erzählen setze ein semantisches Feld voraus, das in
zwei komplementäre Untermengen aufgeteilt ist. Eine erzählbare Handlung
komme dann in Gang, wenn der Held die Grenze zwischen diesen Feldern über¬
schreite, eine Grenze, die normalerweise, das heißt, im sujetlosen Fall, undurch¬
dringlich bliebe. Lotmans Beispiele, einfach Erzählvorgänge, das Märchen vom
Fischer un siner Fru oder Dornröschen, seien hier übersprungen. Trautweins Frage
ist nun, ob diese Erzähltheorie, wenn auch auf ungewohnte Weise, durch die deut¬
sche Grenze, durch die politische Teilung, veranschaulicht werden könnte. Von
Trautwein herangezogene Beispiele aus der DDR-Literatur, etwa Anna Seghers
Erzählung Die Rückkehr von 1948, also vor dem Mauerbau, seien hier gleichfalls
übersprungen. Das sind von Trautwein so genannte Bekehrungsschemata, bis hin
zu Christa Wolfs Geteiltem Himmel von 1963.
Aber schon Johnsons erster Roman, Ingrid Babendererde - Reifeprüfung 1953, der
erst posthum erschien, widersprach diesem Schema. Der Gang über die Grenze ist
definitiv. Trautwein weist darauf hin: dem ansonsten sukzessiv erzählten Gesche¬
hen wird die verbotene Bahnfahrt nach Berlin vorangestellt, und es werden, je¬
weils zu Kapitelbeginn, weitere Stationen der Republikflucht eingeschoben. Am
Schluß steht mit der nächtlichen Bootsfahrt der Beginn der Flucht. Also dem
DDR-Schema der negativen West-Erfahrung und der positiven Ost-Erfahrung
stellt Johnson nur das negative So-Nicht auf der einen Seite entgegen. Es bleibt of¬
fen, was jenseits der Grenze ist, wohin der Autor seinen Figuren bald folgen wird.
Aber der deutlichen Bewertung liegt ein im Ganzen kohärent erzähltes Geschehen
zugrunde. Eine wahrhafte Reifeprüfung.
Für die beiden nächsten Romane sieht Trautwein dies grundlegend geändert. In
Mutmaßungen über Jakob und Das dritte Buch über Achim erscheint die Grenze
nicht mehr als ein zu dissimilierendes oder assimilierendes Gebilde, sondern als
Konkurrenzlinie zweier "Selektions- und Interpretationssysteme".
Johnson sagt dazu im zitierten Essay:
"Das Schema A beansprucht ihn als Kronzeugen für die Vorzüglichkeit des Staatswesens,
in dessen Sinne zu arbeiten es beauftragt ist. Das Schema B verschweigt den Reisenden.
Oder es macht ihn zu einem Zeugen für die Schrecklichkeit des Landes, das er eben erst
aufgesucht hat, das er noch gar nicht kennt."13
13 Johnson, Berliner Sachen, S. 12.
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