was zugleich eine positive Rückwirkung auf die Entstehungs- und Rezeptionsbe¬
dingungen im Sinne einer Aufwertung dieser Literatur mit sich bringen könnte".10
Die Literatur des Elsaß ist auch, indem sie spricht, ein permanenter Kampf um die
Wiederherstellung und Bewahrung einer historisch entwickelten kulturellen Auto¬
nomie, um die Förderung und Bewahrung der eigenen reichen Sprache. Adrien
Fincks Geschichte Der Sprachlose, mit Illustrationen von Tomi Ungerer, zeigt ein¬
dringlich, daß Literatur immer auch etwas Münchhausisches hat, daß sie sich sehr
wohl am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann, und daß Goethe in den
Weissagungen des Bakis (Spruch 24) nicht nur "Gott" gemeint haben kann, wenn
er sagt "Denn es vermag nur ein Gott, Kegel und Kugel zu sein".
Die Grenze in der Literatur, die Literatur von der Grenze kann diese nicht immer
"aufheben". Sie muß auch zeigen, daß die Grenze in der Realität verletzt, ja tötet.
Ludwig Harig beschreibt in einer jüngst erschienenen Anthologie mit dem Titel
Tötungsverfahren drei Stufungen. Sein Beitrag heißt "Grenzgänge". Es ist eine
Spurensuche in den Pyrenäen und vermittelt drei Erfahrungen mit der Grenze.
Kurt Tucholskys Wanderungen durch das französisch-spanische Grenzgebiet im
Herbst 1925 und in seinem berühmten Pyrenäenbuch. Eugen Helmles tragikomi¬
scher Zusammenstoß mit spanischen Grenzpolizisten, der ihm im Herbst 1948 auf
Grund einer mißverstandenen Handbewegung neun Monate Gefängnis einbrachte:
die spanische Geste für die Aufforderung, näherzukommen, entspricht der deut¬
schen für die Gewährung, sich zu entfernen. Und die tödliche Steigerung: Walter
Benjamins gescheiterter Fluchtversuch über die Pyrenäen im September 1940 und
sein Suicid.
Damit ist das Schlußkapitel aller Grenzvorkommen und -Vorkommnisse eröffnet.
Die kulturhistorisch entwickelten Rituale der Grenzöffhung und -Überwindung
schweigen und versagen vor dem Tod, des Literaten, nicht der Literatur. Seinen
Essay "Berliner Stadtbahn"* 11 beginnt Uwe Johnson: "Erlauben Sie mir, unter die¬
sem Titel zu berichten über einige Schwierigkeiten, die mich hinderten, einen
Stadtbahnhof in Berlin zu beschreiben". Es folgt ein Werkstattbericht aus der Ar¬
beit an einem größeren epischen Text. Der Name Berlin wird vorausgesetzt als das
Schema für eine Groß-Stadt. Bereits hier am Anfang findet Johnson einen Stil, der
hinter dem lakonischen Tonfall und der äußersten Sachlichkeit der Beschreibung
immer stärker das Höllengelächter über die Absurdität und Monstrosität dieser
Grenze im Bewußtsein des aufmerksamen Lesers ertönen läßt:
"Die Grenze zerlegt den Begriff. Sie kann nicht als Kenntnis vorausgesetzt werden. Zwar
ist bekannt, daß das Gebiet der ehemaligen deutschen Hauptstadt wie eine Insel vom
ostdeutschen Staat umschlossen liegt und daß die Insel wiederum geteilt ist. Um jene
111 Finck, "Probleme der Geschichtsschreibung elsässischer Literatur des 20. Jahrhunderts", S. 121.
11 Zuerst erschienen in Merkur, VI. Jg., 1961, 8. Heft, August 1961, S. 722-733; dann abgedruckt in: Uwe
Johnson, Berliner Sachen, Aufsätze, Frankfurt/M. 1975, S. 7-21, hier unter der Überschrift "Berliner
Stadtbahn", in Klammem der Zusatz (veraltet), offenbar vom Autor selbst. Die Klammer bezieht sich auf
die veränderten Passierverhältnisse nach dem Bau der Mauer am 13.8.1961.
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