Gerhard Schmidt-Henkel
Grenzen in der Literatur.
Methoden und Motive der Dissimilation und Assimilation
Die folgenden Überlegungen sind in drei Abschnitte gegliedert. Zunächst einige
grundsätzliche Bemerkungen und Thesen zum ersten und zum zweiten Teil des
Themas. Sodann wird der Blick auf einige literarische Sachverhalte in den vier
Regionen Luxemburg, Lothringen, Saarland und Elsaß gerichtet. Schließlich soll
der Sonderfall einer östlichen Grenze, genauer einer ehemaligen Grenze, erörtert
werden, ein Fall, der geeignet ist, die Frage des Themas, aber auch die literatur-
wissenschaftliche Diskussion überhaupt entscheidend fortzuführen.
Grenzen in der Literatur: das gehört zunächst in den Bereich der Themen und Mo¬
tive, ihrer Analysen, ihrer poetischen Funktion, wie der Mond bei Goethe und Ei-
chendorff oder auch bei Arno Schmidt, oder der Motivkomplex des Ehebruchs bei
Theodor Fontane. Wir bereiten z.B. in unserem fortlaufenden Kolloquium über die
Literaturen der Grenzregionen eine literarische Anthologie zum Thema "Deutsch-
französische Grenze seit 1870" vor.
Der Objektcharakter der Literatur verkehrt sich aber unversehens, wenn man me¬
taphorisch die Literatur generell als ein Phänomen der permanenten Grenzüber¬
schreitung versteht.
In der topographischen und politischen Realität befindet sich die Literatur genau
an den Grenzen, an denen sich auch ihr Leser befindet, wenn er auf sie stößt, sei
es, daß die Literatur als Konterbande beschlagnahmt wird, meistens in Überschät¬
zung ihres Gefahrenpotentials, sei es, daß sie wegen der Sprachgrenze nicht ver¬
standen wird:
AN DER GRENZE DES RECHTSSTAATS
Mit dem Lauf
der Maschinenpistole
blättert der Grenzschutz
in meinem Manuskript
gegen den Polizeistaat1.
Dieses Gedicht liest sich wie eine Kontrafaktur zu Bertolt Brechts Legende von der
Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration;
denn hier ist es ein "Grenzorgan", ein Zöllner, der dem Weisen zwar den Weg ver¬
wehrt, aber ihm seine Weisheit in 81 Sprüchen abverlangt:
Aber rühmen wir nicht nur den Weisen,
Dessen Name auf dem Buche prangt!
1 AsteL, Neues (& altes) vom Rechtsstaat & von mir, S. 159
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