Vorerst wird man sich auf mehrere Sondierungen beschränken müssen (Kirchen-
und Siedlungsarchäologie), um ein deutlicheres Bild von frühmittelalterlichen Le¬
bensverhältnissen in Tirol zu bekommen. Die bisherigen, untereinander oft sehr
widersprüchlichen Ergebnisse erklärt man sich m. E. am besten durch Siedlungs
i n s e 1 n , deren Verbindung und gegenseitige, ausgleichende Beeinflussung in
unruhigen Zeiten stark reduziert war wie überhaupt Handel, Verkehr,
Zusammenhalt und ganz allgemein die Bedeutung größerer Gemeinschaften.
Sprachlich faßbare Grenzen deuten sich zuerst in einigen vorrömischen Ortsna¬
menklassen an, etwa um Namen auf -uste, -iste wie in Venustis, Humiste oder im
Umfeld mehrerer Telfs zwischen Vintsehgau und Valsugana, mit appellativem
Mutt/Kogel oder Gande/Lommer und ähnlichen Relikten14 im rätischen Westen
bzw. norischen Osten. Dem entsprechen anscheinend die alten Bistumsgrenzen
zwischen Chur, Trient, Säben und Salzburg, die jedoch besser als Zonen zu be¬
zeichnen sind, wie zahlreiche Forstnamen zeigen. In einigen Fällen sind noch im
Mittelalter Grenzgebiete erkennbar wie in den Namen von Ainet < ahd. einöti
(Landeck; Osttirol) oder Meran15. Genauere Grenzen scheinen erst relativ spät
herauszutreten, etwa entlang von Wasserläufen wie dem Ziller, dem Tinnebach,
dem Eggenbach (Kardaun) oder auch, im Burggrafenamt, der Etsch.
In historischer Zeit werden die breiten Grenzzonen zunehmend verengt, die zwi¬
schen den Gauen und den Grenzsiedlungen einzelner Stämme lagen. Es scheinen
vor allem zwei Gründe in Frage zu kommen, die in der Namenlandschaft mit teil¬
weise unklaren sprachlichen oder ethnischen Zuordnungen - etwa infolge intensi¬
ver, langandauemder Kontakte - die Herausbildung markanter Grenzen gefördert
haben:
- Auseinandersetzungen wegen verknappter Nutzungsgründe (Hofteilung, er¬
höhte Abgaben) und sozialer bzw. politischer Rivalitäten;
- Einbruch von Kriegsheeren und erzwungene Ansiedlung an Knotenpunkten
zur Sicherung (Rückendeckung).
In sehr verschiedener Weise haben sich beide Faktoren - oft einzeln, manchmal
zusammen - an der historischen Raumbildung unseres Landes beteiligt. Schon die
Räter selbst, zuerst eher südlich von Trient belegt, sind anscheinend immer tiefer
in die Alpen und nordwärts gedrängt worden. Die Kelten besetzten vor allem die
14 Dazu E. Schneider, Romanische Entlehnungen in den Mundarten Tirols, Innsbruck 1963; E.
Kühebacher, "Zur vorgermanischen Siedlungsgeschichte Tirols", in: Studien zur Namenkunde und
Sprachgeographie (= Fs. K. Finsterwalder), Innsbruck 1971, S. 61-81 sowie ders.,"Ladinisches
Sprachgut in den Tiroler Mundarten", in: Ladinien (- Jb. d. Südtiroler Kulturinstituts 3-4, Bozen
1963/64, S. 222-244.
15 Das fälschlich immer wieder zu den Prädien auf -ANUM gerechnete Meran ist wesentlich jünger und
eine Suffixableitung mit der Basis *majoria (A. Schorta, Rätisches Namenbuch 2, 194), wie K.
Finsterwalder nahelegt im Schiern 45 (1974), S. 31 ff.; zu Ainet vgl. Jb. d. Südtiroler Kulturinstituts 5-
7 (1965-67), S. 245.
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