Einleitung
Von dem in der lothringischen Grenzregion geborenen französischen Schriftstel¬
ler Maurice Barrés, einem politisch einflußreichen Schriftsteller der dritten Re¬
publik, stammt folgende Erzählung: In der Zeit vor dem ersten Weltkriege habe er
seinen Sohn an die als Resultat des deutsch-französischen Krieges 1871 neu
entstandene Grenze zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich auf dem
Kamm der Vogesen geführt. "Dort wohnen die Deutschen", sagte Barrés. "Haben
die auch eine Seele?", fragte der Sohn zurück. "Nein", antwortete der Vater und
notierte dazu in seinem Tagebuch: "Ich wußte wohl, daß es eine Idiotie war, aber
solche Idiotien erzeugen Energien."
Diese - wenn auch unter uns zynisch erscheinendem Vorbehalt getroffene - Ab¬
grenzung der Psychen, diese ins Absurde gesteigerte Grenzempfindung, ist Vor¬
spiel zu noch grausamerem Geschehen, indem im 20. Jahrhundert in Europa dem
zum Unmenschen gewordenen Nachbarn jenseits der Grenzen das Recht auf Hei¬
mat, das Recht auf Existenz abgesprochen werden konnte. Diese Haltung ist zu¬
gleich Abschluß einer seit der frühen Neuzeit verstärkt wahrzunehmenden Ten¬
denz der sich territorial ausbildenden Nationalstaaten, an ihren Grenzen die ho¬
heitlichen Merkmale ihrer Differenzierung zu bündeln, so daß politische, wirt¬
schaftliche, kulturelle und möglichst auch sprachliche Grenzen zusammenfallen
konnten. Das Gefühl, daß die größtmögliche, auch Kultur und Sprache umfassende
Differenzierung der natürliche Zustand diesseits und jenseits einer Grenze sei, ist
auch heute noch durchaus verbreitet. "Pourquoi parle-t-on allemand de ce côté-ci
de la frontière politique alors qu'on ne parle pas français de l'autre côté", so zitiert
der Straßburger Jean Richard einen Arzt aus dem französischsprachigen Lothrin¬
gen, der die gewachsene Sprachsituation Lothringens, wo sich französische und
deutsche Staatsgrenze und französisch-deutsche Sprachgrenze nicht entsprechen,
in einem Artikel zu ebendieser Situation nicht kennt. In Belgien aber, im
Sprachenstreit zwischen Flamen und Wallonen, verlangt man die Aufteilung einer
traditionellen politischen Einheit, nämlich Brabants, in einen flämischen und
einen wallonischen Bezirk: die Sprachgrenze soll zu einer politischen Grenze
werden. Ein altes Muster, die Vorstellung einer Einheit kultureller, administrativer
und politischer Grenzen wirkt in den Köpfen lange nach und erzwingt eine stete
Aktualität des Nachdenkens über Grenzen.
Sache und Begriff der 'Grenze' müssen aber auch in einem Augenblick an Aktuali¬
tät gewinnen, in dem europäische Politik die Überwindung wirtschaftlicher und
politischer Grenzen in Westeuropa im Zuge der Bildung und des weiteren Ausbaus
supranationaler Gemeinschaften diskutiert und dafür konkrete Handlungsszenarien
entwirft (1993). In gleicher Zeit hat sich die (leider nicht immer friedliche) Dis¬
kussion der Stabilität und Sicherung von Grenzen mittel- und osteuropäischer
Nachkriegsstaatlichkeit im Gefolge der regionalen Umwälzungen als dringend
erwiesen. 'Grenze' ist im Dilemma von Stabilität und Überwindung inzwischen in
zugleich faszinierender wie auch bestürzender Vielfältigkeit zu einem Thema exi¬
stentieller Bedeutung im gemeinsamen "europäischen Haus" geworden. Nicht nur
Politik, sondern auch verschiedenste Wissenschaften sind hiermit zu einer Besin¬
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