ten jüngsten Ereignisse hatten das Schicksal jedes Einzelnen spürbar und nachhaltig
beeinflußt, indem sie gewaltsam das bislang Bestehende hinweggefegt und durch
neue Formen in Staat und Gesellschaft ersetzt hatten. Mit diesen Erlebniskomple¬
xen und den daraus folgenden psychologischen Gegebenheiten hatte Napoleon also
in den neu gewonnenen Gebieten an Rhein und Saar zu rechnen, und sie mußte er
in den Griff zu bekommen versuchen, wenn er eventuelle Widerstände gegen das
von ihm verkörperte Staatswesen auffangen und die Bürger womöglich sogar als
loyale Anhänger gewinnen wollte. Im großen und ganzen ist ihm dies gelungen,
wenn auch die Bereitschaft zur Zusammenarbeit bei den maßgeblichen sozialen
Gruppen, nämlich dem Adel, den Bauern, der Geistlichkeit, der Beamtenschaft und
dem Besitz- und Bildungsbürgertum, auf durchaus verschiedenartigen Motiven
beruhte28. Die einen profitierten von der - wenigstens bis etwa 1807/08 -
glänzenden Wirtschaftsentwicklung, die anderen dankten Napoleon die Beendigung
des revolutionären Kirchenkampfes durch das Konkordat mit Zustimmung, und
wieder andere fühlten sich durch die Befriedigung handfester Eigeninteressen an
ihn gebunden. Letzteres betraf vor allem die Vertreter des aufstrebenden, vermö¬
genden Bürgertums, die nicht nur in der Wirtschaft tonangebend waren, sondern
auch in der Administration die meisten Positionen einnahmen. Denn sie zahlten
naturgemäß die höchsten Steuern und wurden daher als leitende Beamte oder Räte
in die uns bereits bekannten Verwaltungskörperschaften auf Departements-,
Bezirks- oder Gemeindeebene berufen29. Der Kaiser sah in dieser sozialen Gruppe,
zusammengesetzt aus Großbürgern, Juristen und Beamten, ein Rückgrat seines
Regimes und hat durch Erhebungen in den Adelsstand die Entstehung jener neuen
Führungsschicht der sogenannten „Notablen“ nachdrücklich gefördert.
Was die sonstigen Beziehungen zwischen der Bevölkerung an der Saar und den
natürlich nicht sehr zahlreichen Repräsentanten der französischen Herrschaft
anlangt, so fehlte es in den Städten der Region durchaus nicht an beiderseitigen
Kontakten, da den Vertretern der gebildeten Oberschicht die französische Sprache
selbstverständlich geläufig war. Der Saarbrücker „Abendgesellschaft“ z. B. gehör¬
ten neben den deutschen Mitgliedern auch französische Beamte an30. Genauso
verhielt es sich mit den Abendgesellschaften der Städte Trier und Blieskastel. Im
Gegensatz dazu blieb die ländliche Bevölkerung, in der es naturgemäß kaum
Menschen gab, die des Französischen mächtig waren, von kulturellen Einflüssen
Frankreichs so gut wie unberührt. Infolgedessen fanden auch nur sehr selten
menschliche Begegnungen statt, wie u. a. aus der geringen Zahl gemischter Ehen
hervorgeht31. So mußte Präfekt Keppler in einem seiner Berichte das Weiterbeste¬
hen von „deux peuples séparés; deux nations“ konstatieren32, und er äußerte sogar
die Befürchtung, „die Trennung der beiden Völker“ werde andauern, „so wie man
es in den Departements sieht, die sich aus dem alten Elsaß und dem deutschen
28 Vgl. daselbst, S. 385 ff.
29 Vgl. daselbst, S. 391 und R. Ortlepp (wie Anm. 16), S. 151.
30 Vgl. Bericht des Präfekten Keppler in: Koblenzer Archiv, Abt. 276, H II F 29.
31 M. Müller, Die Geschichte der Stadt St. Wendel, Saarbrücken 1927, S. 166 und A. u. F. Ecker (wie
Anm. 13), S. 217.
32 Bericht Keppler, zitiert bei M. MÜLLER (wie Anm. 31), S. 166, Beilage IV, 1,2 und A. u. F. Ecker
(wie Anm. 13), S. 217.
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