Buch, die Heilige Schrift. Der Oberkörper wird durch vier schematisch ausgeführte,
schlauchartige Wulstfalten in leichter, durchhängender Bogenführung zwischen den
eng am Körper anliegenden Armen untergliedert. Die Schultern sind schmal und
glatt abgerundet. Von ihnen steigt der Amikt als rahmender Kragen um die untere
Gesichtshälfte auf. Die spitzovale Gesichtsform ist sehr flächig geformt ohne
stärker akzentuierende plastische Binnendetails, was durch die halbabgeschlagene
Nase noch betont wird. Kleine lächelnde Wulstlippen und schmale ovale Augen
geben dem Antlitz einen zurückhaltend freundlichen Ausdruck. Die Wangen
bleiben in der eiförmigen Rundung.
Ikonographisch bemerkenswert ist die mehrfigurige Darstellung, die vor den Füßen
und Beinen des Heiligen bis zu seinem Schoß als Relief, das sich wiederum den
Umrissen des Blocks einpaßt, angeordnet ist. Vor dem linken Unterschenkel sitzt
senkrecht aufsteigend ein Hirsch, links in entsprechender Position eine Frau, die
eine runde Schüssel so hält, daß sie medaillonartig senkrecht vor den Knien,
Oberschenkeln und dem Schoß des Heiligen steht, offensichtlich von der Bedeu¬
tung eines Attributs. Auf der Schüssel erkennt man im Relief einen Schweinskopf
und Schweinsfüße. Der Bildhauer hatte sich mit dieser Wiedergabe anschaulich an
die Heiligenlegende gehalten, wie sie in der „Legenda aurea“ des Jacobus de
Voragine aufgezeichnet wurde: der Hirsch vertritt alle Tiere, die der Heilige vor
Krankheit und vor den Jägern des Landesherren bewahrte, als er vor den
Verfolgungen auf Geheiß Kaiser Diocletians als Bischof in Cappadocien (Klein¬
asien) in eine Waldhöhle geflohen war. Ein markantes Wunder betrifft das Schwein
einer armen Frau. Sie klagte vor Blasius, ein Wolf hätte es ihr geraubt. Er bewirkte,
daß der Wolf zu der Frau kam und ihr das Schwein zurückbrachte. Als aber Blasius
bald darauf eingekerkert und gefoltert wurde und hungerte, schlachtete die Frau das
durch Blasius gerettete Schwein und „brachte ihm des Schweines Kopf und Füße,
und eine Kerze und Brot. Er dankte ihr und aß; und sprach zu ihr ,Opfere jedes Jahr
in der Kirche, die in meinem Namen ist geweiht, eine Kerze, das soll ein Segen
sein1 .. . und es brachte ihr Glück und Segen“19! Nach Jacobus de Voragine starb
Blasius im Jahr 287 den Märtyrertod (nach neuerer Meinung erst um 316). Er wird
als einer der Nothelfer verehrt.
Die Darstellung ist schlicht und volkstümlich. Ihr fehlt die Feinheit höfischer
Kunst. Sie ist aber charakteristisch für die Zwischenphase der Bildhauerei - nicht
nur in Lothringen - zwischen der Hochgotik und dem Beginn des sogenannten
Schönen oder Weichen oder Ondulationsstils um 1390/1400. In dieser Zwischen¬
phase kam die Parler-Strömung zur vorübergehenden Wirkung mit Werken
verschiedener Qualitätsstufen. Daß sie in Metz und im nordöstlichen Lothringen
mehr Spuren hinterlassen hat als im übrigen Land, dürfte mit der allgemeinen
künstlerischen Ost-West-Bewegung Zusammenhängen, die in der Epoche Kaiser
Karls IV. zu beobachten ist. Prag als Zentrum zog zuerst westliche (auch
französische und italienische) Kräfte an, unter ihnen die zuvor in Köln und
Schwaben tätigen Parier, um danach in den Westen zurückzustrahlen. In Lothringen
scheinen sich schließlich die westlichsten Ausläufer der in Prag und Nürnberg (und
19 Zitiert nach: Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine. Aus dem Lateinischen übersetzt von
Richard BENZ. 10. Auf!. Heidelberg 1984, S. 194-197.
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