Rainer Hudemann
Grenzübergreifende Wechselwirkungen in der Urbanisierung
Fragestellungen und Forschungsprobleme
Der Bahnhof der Stadt Metz - ein Symbol deutschen Herrschaftswillens in Lothringen
und zugleich Zeugnis technischer Hochentwicklung der Zeit vor dem I. Weltkrieg. Als
solches ist das 1908 eingeweihte Bauwerk, für dessen Architektur die mittelalterliche
Goslarer Kaiserpfalz ein Vorbild abgab, bekannt. Dem Touristen, der sich für mehr
als den mittelalterlichen Kern der alten Reichsstadt interessiert, wird als Ausdruck
dieses Herrschaftswillens gerne eine in halber Höhe am Bahnhof angebrachte Statue
gezeigt: ein grimmig dreinschauender Roland, Verkörperung germanischen Geistes,
Inbegriff martialischer Angriffsmentalität des deutschen Kaiserreiches - so scheint es
(Abb. 1). Photos in einem alten Führer von Metz aus der Zeit vor dem I. Weltkrieg1
zeigen allerdings einen ganz anderen Roland, eine freundlich-würdige, hoheitsvolle
Gestalt (Abb. 2). Was ist hier geschehen?
Tatsächlich diente als Vorbild für den ursprünglichen Roland der erste deutsche
Kommandant von Metz nach 1871, Feldmarschall Gottlieb von Haeseler. Seiner
Statue schlug man, wie vielen anderen Statuen im Elsaß und in Lothringen, in der
Zeit nach dem Waffenstillstand 1918 den Kopf ab, und später ersetzte man die ganze
Gestalt. Der heutige Roland am Metzer Bahnhof repräsentiert in Wirklichkeit nicht
das Selbstverständnis des Deutschen Kaiserreiches, und noch weniger den mittel¬
alterlichen Symbolgehalt des Roland als Freiheitsstatue, sondern er ist ein Spiegel der
Vorstellungen, die man sich in Frankreich von germanisch-deutschem Wesen machte.
Vielleicht macht man sie sich auch noch heute - der Tourist erfährt von dem Aus¬
tausch der Statuen jedenfalls in der Regel nichts.
Der Roland und sein Schicksal zeigen die komplizierte Verflechtung deutscher und
französischer Einflüsse in dieser Grenzregion geradezu symbolhaft. Im Jahre 1918
sollte die Zerstörung der ursprünglichen Statue den Bruch mit allem, was das Reich
in Elsaß-Lothringen aufgebaut hatte, markieren.2 Tatsächlich behielt man aber nicht
nur den Bahnhof - mit Ausnahme des Roland - bei. Im Gegenteil: man führte auf
vielen Gebieten trotz des offiziell verkündeten Bruches das weiter, was die Deutschen
begonnen hatten, und brachte Eigenes darin ein.
Der Metzer Bahnhof führt damit auf die Spur von Entwicklungen, die über das
regionale Beispiel hinausweisen. Gerade konfliktbeladene Grenzräume, deren tren¬
nende Wirkung meist im Vordergrund der Betrachtung steht, haben in vielfältiger
Weise zu der Verflechtung von nationalen Traditionen und Einflüssen auf trans¬
1 H.M. Will, Neuer Führer durch Metz und über die Schlachtfelder von Gravelotte - St.
Privat, Vionville - Mars-la-Tour, Colombey - Nouilly, Metz o.J. (ca. 1910), S. 8.
2 Grundlegend zur Reichslandzeit in Lothringen: François Roth, La Lorraine annexée (1870-
1918), Nancy 1976.
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