Diese im statistischen Befund erkennbaren Mängel in der Wohnungsversorgung
wurden auch von den Zeitgenossen wahrgenommen. So schrieb am 13. März 1897 der
Brigadier der Gendarmerie an den Bürgermeister von Düdelingen: "Es herrscht hier
wirklich Mangel an Arbeiterwohnungen, obgleich 2/3 der Arbeiter unverheiratet sind
oder keine Familie bei sich haben; jedes Stübchen, ja selbst jede Dachluke oder
Kellerraum ist bewohnt und zwar zu Preisen, welche fast alle um die Hälfte zu hoch
gegriffen sind. Es gibt sehr viele Zimmer hier, in welchen 8-10 oder auch mehr ledige
Arbeiter, welche ihre Menagen selbst machen, wohnen, kochen und schlafen; auch die
meisten Familien sind schlecht logiert, sie haben gewöhnlich nur 2 Zimmer; diejeni¬
gen, welche 3 oder mehr Zimmer haben, halten Kostgänger, so daß alles, vom Keller
bis zum Dachstübchen, überfüllt ist. Gelegentlich einer Untersuchung konnte ich
festhalten, daß in der Schenke R. 3 ledige Arbeiter ein möbliertes Dachstübchen mit
nur 1 Bett für 10 Mark pro Monat gemietet und abwechselnd in dem Bette schlie¬
fen".30 Am 18. September desselben Jahres schrieb Hüttendirektor Mayrisch gleich¬
falls an den Bürgermeister: "Niemand kann hier den Mangel an ordentlichen und
gesunden Arbeiterwohnungen in Abrede stellen. Die diesbezüglichen Zustände sind
in den Arbeitervierteln haarsträubend in Bezug auf Hygiene und Moralität, und
mögen die Oberbehörden sich hiervon de visu überzeugen können. Die Hausmieten
sind erdrückend und wucherartig, indem hier für das kleinste luft- und lichtlose
Zimmer mindestens 10 F monatlich erhoben werden".31
Natürlich verbesserte sich die Wohnsituation durch den Bau von Arbeiterwohnun¬
gen.32 Allerdings war ihre Zahl so gering, daß ein deutlicher Abbau der Mängel
damit nicht verbunden war. So kann, zumindest auf dem Gebiet des Wohnens, kaum
von einer ausbleibenden Proletarisierung die Rede sein.33
30 Freundliche Mitteilung von Mars Lorenzini; s. auch: Dudelange. L’usine centenaire (Anm.
22), S. 74. Leider gibt es wenige Texte zur Wohnerfahrung, also zur subjektiven Wahrneh¬
mung des Wohnens im Luxemburger Industriegebiet; s. etwa den am 25. Dez. 1903 ver¬
öffentlichten Text über "Weihnachten in den Baracken", in: "Der arme Teufel", in Auszügen
abgedruckt in: Janine Wekenkel-Frisch, Der arme Teufel. Sozialdemokratische Zeitung.
Monographie d’un journal socialiste luxembourgeois (1903-1929), o. O. o. J. (Luxemburg
1978), S. 80f. Zur Wohnerfahrung s. etwa Michael John, Hausherrenmacht und Mieterelend.
Wohnverhältnisse und Wohnerfahrung der Unterschichten in Wien (1890-1923), Wien 1982.
31 Dudelange. L’usine centenaire (Anm. 22), S. 74.
32 Im Plan der Hütte von 1883 war schon hinter der Hütte eine "Place pour Cité ouvrière"
vorgesehen (Dudelange. L’usine centenaire, Anm. 22, S. 26f.). 1886 wurde der Bau von sechs
Arbeiterhäusern vom Verwaltungsrat beschlossen, s. ibid., S. 39. 1887 entstanden in der
Suftgenerstraße 12 Häuser mit 31 Wohnungen; s. Weber (Anm. 13), S. 70; Dudelange, ibid.,
S. 55.
33 Hierbei soll jedoch nicht vergessen werden, daß noch 1947 nur 17 % der Wohnungen eine
Dusche besaßen, 51 % eine Toilette; s. Georges Als, Population et Economie du Luxembourg
1839-1989, Luxemburg 1989, S. 33f.
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