Full text: Stadtentwicklung im deutsch-französisch-luxemburgischen Grenzraum

Deutschland gescheitert seien. Vielmehr entwickelten sich andere Strategien, die vor 
allem von genossenschaftlichen und gemeinnützigen Organisationen getragen wurden, 
die jedoch eine erheblich größere Wirkung erzielten als die durch das Gesetz von 
1894 in Frankreich geschaffenen staatlichen Initiativen.2 Die von ihnen noch vor dem 
Ersten Weltkrieg errichteten Wohnungen machten - gerade im Vergleich mit Frank¬ 
reich - deutlich, daß staatlich-gesetzgeberische Vorgaben zwar wichtige, aber keines¬ 
wegs hinlängliche Bedingungen zur Bekämpfung der Wohnungsmisere der sozial 
schwächeren Bevölkerungsgruppen waren. 
Diese in Deutschland und Frankreich entwickelten unterschiedlichen Strategien und 
gesetzlichen Normen zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus trafen 1918 in den 
Städten Elsaß-Lothringens aufeinander. Während der Zeit der Zugehörigkeit zum 
Deutschen Reich, die auch im Reichsland durch eine beschleunigte Urbanisierung 
gekennzeichnet war,3 blieben zwar wichtige Elemente der französischen Rechtstradi¬ 
tion erhalten, aber in der Lösung der nun erst brisanten Wohnungsfrage hatten sich 
die Städte in Elsaß-Lothringen ganz am Modell anderer deutscher Städte orientiert. 
Mit dem Wechsel der nationalen Zugehörigkeit nach dem Ersten Weltkrieg stellte 
sich nun die Frage, ob die vor 1914 entwickelten Ansätze einer kommunalen Woh¬ 
nungspolitik als tragfähige Grundlage für den weiteren Ausbau wohnungsfürsorgeri¬ 
scher Aktivitäten erhalten bleiben sollten oder ob die Städte in den rückgegliederten 
Provinzen sofort die in anderen französischen Städten ausgebildeten Institutionen und 
Normen im Bereich des Wohnungswesens übernehmen sollten. Neben einer Bestands¬ 
garantie lokaler Traditionen und Vorschriften einerseits oder einer radikalen Assimi¬ 
lation an das französische Rechts- und Verwaltungssystem auf der anderen Seite 
waren natürlich auch Kompromisse in Form von Übergangsfristen oder aber Kom¬ 
binationen aus deutschen und französischen Handlungsstrategien und Normen denk¬ 
bar, die zu einer Synthese unterschiedlicher nationaler Elemente führen konnten. 
In dem folgenden Text soll am Beispiel einer Kleinstadt untersucht werden, ob der 
Wechsel der nationalen Zugehörigkeit Kontinuitäten oder Brüche in der kommunalen 
Wohnungspolitik zur Folge hatte, ob es dabei zu einer Liquidation bestehender 
Normen und Gestaltungsziele kam oder ob umgekehrt eine Verschmelzung traditio¬ 
neller, an deutschen Vorbildern orientierter Konzepte mit neuen Strategien französi¬ 
scher Provenienz stattfand. Saargemünd, die zweitgrößte Stadt im Bezirk Lothringen, 
2 Gemäß Roger-Henri Guerrand, Les Origines du logement social en France, Paris 1967, S. 
302f. waren in Frankreich im Jahre 1903 auf der Grundlage des Gesetzes von 1894 erst in 96 
Städten Baugenossenschaften entstanden. Sie errichteten in der Zeit zwischen 1895 und 1902 
1360 Häuser, die aus Mitteln des Gesetzes von 1894 gefördert wurden. Zu dieser Zeit gab es 
in Deutschland etwa 500 Baugenossenschaften. Allein die Baugenossenschaft von Mönchen- 
Gladbach errichtete 615 Häuser. Bis zum Jahr 1915 errichteten Baugenossenschaften und 
gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften im Deutschen Reich etwa 125000 Wohnungen, s. 
Hans-Günther Pergande, Die Gesetzgebung auf dem Gebiete des Wohnungswesens und des 
Städtebaus, in: Deutsche Bau- und Bodenbank 1923-1973, o.O. 1973, S. 53. 
3 Rolf Wittenbrock, Bauordnungen als Instrumente der Stadtplanung im Reichsland Elsaß- 
Lothringen (1870-1918). Aspekte der Urbanisierung im deutsch-französischen Grenzraum, St. 
Ingbert 1989, S. 72-76. 
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