Rolf Wittenbrock
Die Anfänge kommunaler Wohnungspolitik im deutsch-fran¬
zösischen Grenzraum: Die Stadt Saargemünd 1910-1930
Das Bemühen um eine Verbesserung des Wohnungswesens wies in den letzten
hundert Jahren in Deutschland und Frankreich zahlreiche Parallelen auf. So begann
in beiden Ländern um 1890 sich die Erkenntnis durchzusetzen, daß das bisher unan¬
gefochten dominierende Prinzip der Wohnungsversorgung durch die Mechanismen
der Marktwirtschaft gravierende soziale Probleme schaffe. Vor allem die Arbeiterbe¬
völkerung, so wurde übereinstimmend festgestellt, sei durch das z.T. stürmische
Wachstum der Städte und die damit verbundenen Engpässe im Wohnungsangebot
immer weniger in der Lage, zu angemessenen Preisen Wohnungen zu finden. Der
Mangel an ausreichendem Wohnraum in den Städten, mehr aber noch die verbrei¬
teten qualitativen Mißstände in den z.T. gesundheitsschädlichen Quartieren erschienen
als ein zentrales Problem der sozialen Frage, das eine verstärkte gesellschaftliche bzw.
staatliche Intervention erforderte. Die in Frankreich von der bürgerlichen Reform¬
bewegung des ’Musée Social’ und der ’Réforme Sociale’ progagierten Maßnahmen zur
staatlichen Förderung des Wohnungsbaus waren weitgehend identisch mit den Zielset¬
zungen, die auch deutsche Organisationen wie z.B. der ’Verein für Socialpolitik’ oder
der ’Deutsche Verein für Wohnungsreform’ vertraten.1 Zudem waren es in beiden
Staaten einzelne überragende Politiker wie André Siegfried in Le Havre bzw. der
Frankfurter Oberbürgermeister Otto Adickes, die durch ihre kommunale Praxis und
gesetzgeberischen Initiativen den nationalen Reformbestrebungen wichtige Impulse
gaben.
Abgesehen von diesen programmatischen, organisatorischen und personellen Par¬
allelen gab es jedoch in der Erfolgsbilanz bei der Durchsetzung der verschiedenen
Strategien zur Verbesserung des Wohnungswesens erhebliche Unterschiede in beiden
Staaten. Während die in Frankreich 1889 gegründete ’Société Française des habita¬
tions à bon marché’ bereits 1894 ein Gesetz zur Förderung des sozialen Wohnungs¬
baus durchsetzen konnte, blieben gleichgerichtete Bemühungen des ’Vereins Reichs¬
wohnungsgesetz’ in Deutschland erfolglos. Im Deutschen Reich waren damit bis 1918
allein die Länder und Kommunen für die Lösung der Wohnungsfrage zuständig. Al¬
lerdings darf aus dem Verzicht auf eine reichsgesetzliche Regelung nicht gefolgert
werden, daß sämtliche Bestrebungen zur Verbesserung der Wohnlage der Arbeiter in
1 Nicolas Bullock u. James Read, The movement for housing reform in Germany and France
1840-1914, Cambridge u.a. 1985, sowie Anthony Sutcliffe, Towards the planned city, Oxford
1981, S. 35-40 u. 138-150.
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